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Politik: Morgen der langen Gesichter

Von Gerd Appenzeller

Wer sich überarbeitet, macht Fehler. Und wer sich zu sehr beeilt, beginnt zu schludern. Das gilt auch in der Politik. Es gab offenbar im Laufe der Koalitionsgespräche eine Phase, in der die Beteiligten verdrängten, warum sie sich eigentlich zusammentun wollen. Das war, als die Arbeitsgruppe Wirtschaft ins Träumen geriet und zu überlegen begann, wie man die Konjunktur denn ankurbeln könne, aber darüber das Sparziel vergaß. Da tat sich neben dem bereits mit 35 Milliarden Euro vermessenen Haushaltsloch ein weiterer Krater auf, in den man noch einmal acht Milliarden hätte versenken können. Ungefähr zur gleichen Zeit, nur an anderem Ort und in anderer Besetzung, hatten die Koalitionäre vergessen, dass sie mit der geplanten Mehrwertsteuererhöhung eigentlich vor allem die Lohnnebenkosten senken wollten. Stattdessen begannen sie, in Gedanken die Mehreinnahmen zum Abbau des Staatsdefizits zu nutzen.

Aber das scheint Vergangenheit zu sein. Die von seriösen und weniger renommierten Beobachtern mal als „Koalition der Diebe“ oder als „Steuerlügner“ apostrophierten schwarzen und roten Unterhändler haben wohl – vielleicht auch unter dem Druck der Medien – zur Vernunft zurückgefunden. Sie besannen sich darauf, dass dieses Land zwar auch dringend solide Staatsfinanzen und ein Ende der großen und kleinen Steuerbetrügereien braucht, dass es aber vor allem darum geht, mehr Wachstumskräfte freizusetzen. Die Menschen müssen ihren Lebensunterhalt verdienen können.

Das und nichts anderes ist die Hoffnung der – wenn man ehrlich rechnet – fast sieben Millionen Arbeitslosen und der noch viel mehr, die um ihre Arbeitsplätze bangen. Auch Hartz IV wird selbst dann, wenn alle Missbrauchsmöglichkeiten versperrt worden sind, ohne Arbeitsplätze nie funktionieren. Deshalb ist es richtig, die Lohnnebenkosten zu senken. Wenn die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung tatsächlich von 6,5 auf 4,5 Prozent reduziert werden, behalten bei einem Bruttogehalt von 2000 Euro sowohl der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber jeweils 20 Euro mehr in der Tasche. Deshalb ist es auch den Versuch wert, den Kündigungsschutz in den ersten beiden Jahren eines Beschäftigungsverhältnisses auszusetzen. Das alles führt nicht unter Garantie sofort zu mehr Beschäftigung. Aber es ist das Signal, das den Weg dorthin wieder ein Stück offener macht.

In der Union und von Arbeitgebern werden die bisherigen Ergebnisse der Koalitionsgespräche als zu weich, zu gering kritisiert. Die Handschrift der Union sei nicht recht erkennbar. Das ist richtig und falsch. Vieles, was jetzt beredet wird, hat mit den Wahlzielen gerade der CDU in der Tat nur geringe Schnittmengen. Doch das liegt vor allem daran, dass die Union, obwohl sie knapp die Kanzlerin stellen kann, die Wahl nicht gewonnen hat. Sie muss sich auf eine SPD stützen, die eine ganz andere Programmatik vertreten hat und damit fast noch den eigenen Abwärtstrend gebrochen hätte. Der Kompromiss zwischen beidem ist also kein Zeichen von Schwäche – es ist der einzige Weg.

Viele in den Medien und den Interessenverbänden, denen das alles noch nicht rigoros genug ist, vergessen im Übrigen, dass die wirklich harten Entscheidungen in den letzten Verhandlungstagen und in den Stunden zwischen Abend und Sonnenaufgang fallen werden. Es wird tiefe Einschnitte geben, das ist sicher. Und womöglich wird mancher, der jetzt nach mehr Verzicht schreit, dann auch ganz persönlich einen Morgen der langen Gesichter erleben.

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