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Politik: Moskau hat Angst vor dem Krieg

Eingreifen in Kirgistan ist unwahrscheinlich: Russland fürchtet Imageverluste wie 1979 in Afghanistan

Eingreifen in Kirgistan? „Derzeit“ gebe es dafür „keine Voraussetzungen“, sagte die Sprecherin von Russlands Präsident Dimitri Medwedew, Natalja Timakowa, am Samstagabend. Die Betonung liegt auf „derzeit“. Denn die Lage hat sich seit dem Hilferuf weiter zugespitzt. Am späten Sonntagnachmittag berichtete die russische Nachrichtenagentur Interfax, Moskau habe zum Schutz seiner militärischen Einrichtungen Truppen nach Kirgistan geschickt. Ein Bataillon russischer Fallschirmjäger sei am Sonntag dort eingetroffen, zitierte die Agentur eine namentlich nicht genannte Person, die für Sicherheit zuständig ist. „Der Auftrag der Einheit ist es, die Verteidigung der russischen Militäreinrichtungen zu verstärken und die Sicherheit der russischen Militärangehörigen sowie deren Familien zu gewährleisten“, wurde die Person zitiert.

Osch, die heimliche Hauptstadt des Südens, wo die Unruhen in der Nacht zu Freitag begannen, liegt weitgehend in Schutt und Asche. Am Samstag griff der Aufruhr auch auf die Nachbarregion Dschalal Abad über. Dort sollen die Aufständischen, die einen Polizeistützpunkt belagern, inzwischen sogar Panzerfahrzeuge erbeutet haben. Insgesamt kamen bisher mindestens 90 Menschen um, mehr als 800 wurden verletzt. „Gott hilf uns“, flehte eine usbekische Menschenrechtsaktivistin. „Sie töten uns wie die Tiere.“ In der 40 Kilometer von Osch entfernten Grenzstadt Karasu warten inzwischen mehr als 12 000 Flüchtlinge, dass Usbekistan einen Korridor öffnet. Die Nachbarrepublik machte ihre Grenzen zu Kirgistan schon am Freitag dicht. Etwa 30 000 Menschen soll die Flucht nach usbekischen Angaben dennoch gelungen sein. Insgesamt sind 75 000 Menschen auf der Flucht.

Westliche Experten sprechen von einer humanitären Katastrophe, russische von Bürgerkrieg. Vermummte bewaffnete Jugendliche brandschatzen und plündern bandenweise Geschäfte, Schulen und Wohnhäuser der Usbeken. Bisher ist es lokalen Ordnungskräften und Paramilitärs nicht ansatzweise gelungen, die Ordnung wiederherzustellen. Eben damit hatte die Chefin der Übergangsregierung, Rosa Otunbajewa, ihren Hilferuf Richtung Moskau begründet. Dies aber vor allem das russische Nein dürften ihr neue Verluste an Zustimmung bringen. Die aber könnten, weil in Kirgistan Alternativen fehlen, zum Zusammenbruch aller staatlichen Strukturen im Land führen. Mehr noch: Unter ungünstigen Vorzeichen sind ähnliche Entwicklungen bei den ähnlich instabilen Nachbarn denkbar. Der Drogenschmuggel, der schon jetzt rekordverdächtig ist, und der in Zentralasien ähnlich rasche Vormarsch radikaler Islamisten wären dann nicht mehr zu stoppen.

Der Kreml ist sich dieser Gefahren durchaus bewusst, steckt aber in einem Dilemma: Lässt Moskau Kirgistan mit seinen Problemen allein, wäre dies ein Warnsignal an andere Staatschefs der Region. Profitieren würde davon vor allem China, das schon jetzt auf dem besten Wege ist, Moskaus politisches und wirtschaftliches Einflussmonopol in der öl- und gasreichen Region zu brechen.

Greift Russland indes ein wie 1979 in Afghanistan, dessen Regierung die Sowjetunion ebenfalls offiziell um militärische Hilfe bat, drohen Moskau die gleichen Imageverluste wie damals. Einen Alleingang in Kirgistan wird Moskau daher kaum wagen. Der völkerrechtlich sauberste Ausweg wäre eine Resolution der Organisation für kollektive Sicherheit, dem Verteidigungsbündnis der UdSSR- Nachfolgegemeinschaft GUS, die am Montag zu einer außerordentlichen Sitzung zusammentreten will. Ihr gehören neben Russland und Kirgistan auch Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan, Weißrussland und Armenien an. Doch Moskau kann nur begrenzt auf Gefolgschaft seiner Ex-Vasallen zählen – wegen chronischer Ebbe in den Staatskassen, und weil die Herrscher Zentralasiens zu Recht fürchten, damit den Krieg auf ihr Gebiet zu holen. An neutralen Kräften, die in der Region einen guten Ruf haben und mit UN-Mandat aktiv werden könnten, fallen Experten die mit den Kirgisen verwandten Türken ein. Doch Ankara ist Nato-Mitglied und Moskau dürfte sein Vetorecht im Sicherheitsrat nutzen, um zu verhindern, dass die Nato dort Fuß fasst. mit rtr

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