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Viele Bürger haben ein falsches Bild vom Politikeralltag.

© dpa

Multitasking, Endlossitzungen, Schlafmangel: Wie ungesund ist der Politikbetrieb?

Etlichen Politikern macht ihr Beruf zu schaffen. Aber nur wenige reden über die Belastung und den gesundheitlichen Preis des Jobs.

Es ist wieder einer dieser Donnerstage. Sitzungswoche im Bundestag, die Tagesordnung zeigt an: Bis zwei Uhr nachts soll es noch gehen. Auch Anke Domscheit-Berg muss am Abend noch eine Rede halten. Jetzt sitzt die Linken-Abgeordnete für das Gespräch in einem Café des Bundestages, vor ihr ein Ingwertee, Müdigkeit im Gesicht. „Ich habe das Gefühl, ein wirklich großes Tabu gebrochen zu haben“, sagt sie.

Nachdem in der Vorwoche ein CDU-Abgeordneter am Rednerpult des Bundestages zusammengebrochen war, hatte Domscheit-Berg auf Twitter die Arbeitsbelastung im Bundestag angeprangert. Sie hatte von chronischem Schlafmangel berichtet, von Tagen ohne Pause, von Burn-outs bei Kollegen und auch davon, wie sie selbst nach einem Sitzungstag für nichts mehr Kraft hat. Sie kritisierte, dass man in den Plenarsaal im Bundestag kein Wasser mitnehmen darf. Am selben Tag brach noch eine weitere Abgeordnete im Bundestag zusammen.

Doch obwohl nach ihren Tweets viele auf Domscheit-Berg zukamen und ihr sagten: „Endlich hat es mal eine ausgesprochen“, gab es in der Öffentlichkeit wenig Zuspruch. Vereinzelt Solidarität, aber es ergoss sich auch ein Shitstorm über sie und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki nannte ihre Kritik „irre“. Der Linken-Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte erklärte: „Es gibt wenige Berufsgruppen, die so privilegiert sind wie Bundestagsabgeordnete.“

Das Mandat steht häufig über der Gesundheit

Die Reaktionen zeigen vor allem eines: Für Politiker sind Beschwerden über die Arbeitsbedingungen ein Tabu. Das gilt nicht nur für Bundestagsabgeordnete, sondern auch für Landtagsabgeordnete, Parteifunktionäre, Minister. Weil der Beruf des Politikers mit einer Reihe von Privilegien einhergeht, haben viele das Gefühl, sich nicht beschweren zu dürfen. Schließlich, so heißt es oft, seien andere Berufe auch hart, aber deutlich schlechter bezahlt. So mancher Politiker schleppt sich auch lieber trotz 39 Grad Fieber vollgepumpt mit Erkältungsmitteln ins Plenum, als einzugestehen, dass er Erholung braucht. Das Mandat, die Aufgabe, steht häufig über der Gesundheit.

Diese Unbarmherzigkeit gegenüber sich selbst hat in der Bundespolitik eine lange Tradition. Kanzler Helmut Schmidt strafte seine gesundheitlichen Leiden mit Nichtachtung. So ging er trotz einer Entzündung der Herzmuskelfasern weiter 16 Stunden am Tag zur Arbeit, sodass er 1981 schließlich einen Herzschrittmacher brauchte. Später sagte er, er sei während seiner Amtszeit mehr als hundertmal bewusstlos geworden. 1989 saß Bundeskanzler Helmut Kohl stundenlang auf einem CDU-Parteitag – unter Schmerzen und mit Katheter. Er hatte ein Prostata-Geschwulst, das eigentlich dringend operiert werden musste. Doch Helmut Kohl wusste: Er soll als Parteichef abgesägt werden, wenn er dem Parteitag fernbliebe, hätte er verloren. Erst als das ausgestanden war, ließ er sich ins Krankenhaus fahren.

Dass körperliche Krankheit in der Politik sofort mit Schwäche assoziiert und deshalb verschwiegen wird – zumindest daran hat sich in den letzten Jahren etwas geändert. Der thüringische CDU-Chef Mike Mohring machte seine Krebserkrankung öffentlich, zeigte sich während der Chemo mit Mütze und berichtete über den Heilungsfortschritt. Auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerin Manuela Schwesig hat bekannt gegeben, dass bei ihr die Diagnose Brustkrebs gestellt wurde. Malu Dreyer, Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz, leidet unter Multipler Sklerose. Bei langen Wegstrecken ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Als kürzlich die Spitzen von Union und SPD vor die Kameras traten, um den Kompromiss in Sachen Grundrente zu verkünden, wurde sie von CSU-Chef Markus Söder gestützt. Und Kanzlerin Angela Merkel hatte sich nach ihren wiederholten Zitteranfällen im Sommer zunächst darauf verlegt, bei Staatsempfängen einfach zu sitzen.

„Viele denken, das ist ein Sesselpupser-Job“

Doch auch wenn Politiker heute offener mit Krankheiten umgehen – über die Belastungen des Berufs selbst, über seinen gesundheitlichen Preis, wird trotzdem nicht öffentlich gesprochen. Und über die psychischen Nebenwirkungen will erst recht kaum jemand in der Politik Auskunft geben – dabei gibt es in jeder Fraktion Kollegen, die mit Burn-out, Depressionen oder psychosomatischen Erkrankungen zu kämpfen haben.

Nicht jammern, lautet bei vielen die Divise. Der junge CDU-Abgeordnete Philipp Amthor etwa sagt: „Natürlich geht man an seine Belastungsgrenzen, aber das gehört zu einer verantwortlichen Führungsposition dazu.“ Auch in anderen Jobs gebe es eine hohe Belastung. Der typische Politikeralltag sei nicht immer zuträglich für einen gesunden Lebensttil, aber da es sich um ein selbst gewähltes Schicksal handele, liege es auch in der persönlichen Verantwortung, daraus das Beste zu machen.

Auch Anke Domscheit-Berg will nicht als eine dastehen, die auf hohem Niveau jammert. Sie sagt, dass sie sich als Linke natürlich auch für die Verbesserung von schlechten Arbeitsbedingungen in anderen Berufen einsetzt, etwa in der Pflege. Nur seien schlechte Arbeitsbedingungen eben überall schlecht – das heißt: auch im Bundestag.

In ihrem Tweet nach dem Zusammenbruch des CDU-Kollegen hatte sie von „menschenfeindlichen“ Bedingungen gesprochen, was ihr viel Kritik einbrachte. „Der Begriff war unglücklich gewählt, ich meinte einfach gesundheitsschädlich.“ Die extreme Dauerbelastung, die fehlenden Pausen und das ständige Multitasking unter Zeitdruck – all das seien gesundheitsgefährdende Faktoren – „nicht nur im Bundestag, aber eben auch dort.“

Viele Bürger haben ein falsches Bild vom Politikerberuf. „Viele denken, das ist ein Sesselpupser-Job“, sagt Domscheit-Berg. Dazu trägt auch bei, dass Bürger im Fernsehen bei Parlamentsdebatten oft leere Reihen sehen. Dabei arbeiten Abgeordnete in vollgepackten Sitzungswochen im Bundestag oft 70 Stunden. Sie sitzen nicht nur im Plenum, sondern auch in Ausschüssen, Arbeitsgruppen, Fraktionssitzungen, bereiten Reden vor, sprechen mit Journalisten, besuchen Fachveranstaltungen. An Donnerstagen dauern die Plenarsitzungen oft bis tief in die Nacht. An den Wochenenden sind häufig Parteiveranstaltungen. Die Familie kommt immer zu kurz.

Nach den Koalitionsverhandlungen erstmal krank

Ein Ansprechpartner in Gesundheitsfragen ist für viele Abgeordnete der SPD-Politiker Karl Lauterbach. Der 56-Jährige ist selbst Mediziner, als der CDU-Mann Matthias Hauer zusammenbrach, leistete er erste Hilfe. Bei einem koffeinfreien Kaffee im Abgeordnetenrestaurant sagt er: „Was unsere wirtschaftliche Situation angeht, sind wir als Politiker sehr gut abgesichert. Es ist ein Beruf, der zu hohen Pensionsansprüchen führt.“ Aber Stress- und Arbeitsbelastung machten den Job zu einem „Hochrisikoberuf“. Da sei etwa der Schlafmangel, an dem manche litten. Dadurch sei man sehr viel infektanfälliger, habe ein erhöhtes Risiko für Herzkreislauferkrankungen, Bluthochdruck, Schlaganfälle. Auch verschleppten manche Kollegen ihre Krankheiten immer wieder, vor allem Erkältungen. „Nach den Verhandlungen zum letzten Koalitionsvertrag habe ich unmittelbar nach Unterzeichnung eine Woche mit Fieber im Bett gelegen, weil ich das verschleppt hatte. Das ging anderen auch so.“

Der AfD-Abgeordnete Markus Frohnmaier erlitt im Januar vergangenen Jahres einen Herzinfarkt - mit nur 26 Jahren. Er war damals Chef der Jugendorganisation der AfD, hatte zuvor die Pressearbeit für die heutige Fraktionschefin Alice Weidel gemacht. Ob der Stress für seinen Herzinfarkt verantwortlich war, lässt sich nicht sagen, aber Frohnmaier machte sich danach erstmal über seinen Lebensstil Gedanken.

Die Linken-Abgeordnete Domscheit-Berg arbeitete früher bei der Unternehmensberatung McKinsey, auch dort ging es zum Teil bis Mitternacht, sie aß Pizza vor dem Laptop. Sie ist also einiges gewöhnt. Das Problem im Bundestag, sagt sie, sei, dass viele Dinge ad hoc und gleichzeitig passieren. In der Anhörung im Ausschuss sitzen, dort erst das Briefing dazu lesen, zuhören, Fragen überlegen – oft macht man als Bundestagsabgeordneter drei Dinge gleichzeitig. „Ich könnte hundertmal besser arbeiten, wenn die Rahmenbedingungen anders wären“, sagt Domscheit-Berg. Ein anderes Beispiel: Im Ausschuss reiche die Debattenzeit oft nur für ein paar Tagesordnungspunkte, der Rest wird nur zur Kenntnis genommen. „Das sind auch mal Sachen aus Brüssel, die durchaus relevant klingen.“ Aber sie müsse sie zur Kenntnis nehmen, ohne die Dokumente gelesen zu haben – es sind einfach viel zu viele. „Dieses dauernde Suboptimale, das stresst mich.“

Vergangenes Jahr schickte die Parlamentsärztin sie für eine Woche nach Hause, weil ihr von morgens bis abends schwindlig war. „Sie diagnostizierte schlichte Überlastung.“ Domscheit–Berg weiß: Sie ist keineswegs ein Einzelfall. Schon zweimal hatte sie einen Burn-out. „Ich bekam Herzrhythmusstörungen, wachte Stunden vor dem Wecker auf und konnte nicht wieder einschlafen, obwohl ich jede Sekunde Schlaf dringend brauchte“, erzählt sie. Sehr dünnhäutig sei sie gewesen. Und vorbei ist das nicht. „Die Schlafstörungen trotz bleierner Müdigkeit habe ich schon wieder.“

Hass im Netz ist belastend

Bastian Willenborg sagt: „Der Politikerberuf geht mit einer erhöhten Gefahr für psychische Erkrankungen einher.“ Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Chefarzt der Oberberg Fachklinik Berlin Brandenburg. Hier lassen sich regelmäßig Politiker behandeln. „Die Gefahr ist, dass sich ein Missverhältnis zwischen Aufgaben und Gratifikation entwickelt“, erklärt Willenborg. „Wenn man zu viel arbeitet, aber keine Wertschätzung dafür bekommt, ist die Wahrscheinlichkeit für einen Burn-out erhöht.“

Auch Willenborg beobachtet, dass Bürgermeister oder Abgeordnete in der Regel mit so vielen Aufgaben konfrontiert seien, dass sie sie realistischerweise nicht erledigen könnten. Willenborg erlebt oft, dass Politiker dann trotz eines Burn-outs weiterarbeiten, also trotz Anzeichen wie Schlafstörungen und Gereiztheit. „Davon kann man krank werden und Angststörungen, Depressionen, Panikattacken oder psychosomatische Erkrankungen entwickeln.“ Wer erst einmal angeschlagen sei, bei dem könnten Hass im Netz oder Morddrohungen den Zustand nochmals verschlechtern.

Die Grünen-Politikerin Renate Künast sagt, dass durch Hatespeech die Arbeit der Politiker härter geworden ist - auch wenn der Beruf Freude mache und man viel verändern könne. Vor einiger Zeit ist sie in die Offensive gegangen, ist zu den Absendern von Hasskommentaren gefahren und hat sie zur Rede gestellt. Besonders Frauen in der Politik werden im Netz mit übelsten Beleidigungen und Beschimpfungen überzogen.

Zur Belastung trägt auch innerparteilicher Streit bei. Politik bedeutet Machtkampf und zuweilen auch Intrige. Die Linken-Ikone und ehemalige Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht zog sich nach einer Art Burn-out aus der ersten Reihe zurück – und nannte nicht nur Dauerstress sondern auch innerparteiliche Konflikte als Ursache. Dazu kommen bei so manchem Sorgen um die Wiederwahl, den Listenplatz oder den Parteiposten.

Karl Lauterbach sagt: „Ich warne davor, dass wir hier anfangen uns zu bemitleiden.“ Andere Berufe seien gesundheitlich sehr viel riskanter. Fakt sei aber: „Unsere Ergebnisse könnten manchmal besser sein, wenn wir die Arbeitsbedingungen verbessern.“ Dass die wichtigsten Entscheidungen mitten in der Nacht getroffen werden, sei eine Unart, „die wir nicht weiterführen sollten“.

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