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Taufe im Juni 2016 im Stadtparksee in Hamburg. Pastor Albert Babajan mit einem Flüchtling, der Christ wird.

© NDR/ dpa

Muslime und Christentum: Wir dürfen die Flüchtlinge nicht den Evangelikalen überlassen

Tausende Flüchtlinge in Deutschland wollen Christen werden. Doch die Volkskirchen überlassen das Feld Evangelikalen und Zeugen Jehovas - ausgerechnet. Ein Essay.

Ein Essay von Claudia Keller

Mittwochnachmittag ist nun wirklich keine klassische Kirchgängerzeit. In der Dreieinigkeitskirche in Berlin-Steglitz aber sitzen hunderte junge Männer in den Bänken. Sie haben die schwarzen Haare mit Gel gestylt wie die Fußballer und tragen Jogginghosen zu Turnschuhen. Einigen baumelt ein Kreuz am Goldkettchen um den Hals; bei anderen leuchtet Jesus als Bildschirmschoner auf dem Smartphone. Vor fünf Jahren kamen ein paar ältere Berliner zum Bibelkurs. Und jetzt das.
Die jungen Männer sind Flüchtlinge, sie leben in Wohnheimen und Turnhallen. Bisher waren sie Muslime. Jetzt wollen sie Christen werden. 850 Konvertiten gehören zur Dreieinigkeitsgemeinde, 350 weitere absolvieren gerade den Taufkurs. Die Gemeinde in Steglitz ist kein Einzelfall. Zu tausenden bitten Flüchtlinge überall in Deutschland um Aufnahme ins Christentum.
Jahrelang haben sich die Kirchen geleert, Pfarrer und Bischöfe haben sich gefragt, wie sie Menschen wieder fürs Christentum begeistern könnten. Sie haben Kongresse zum Thema Mission veranstaltet und Konzepte erarbeitet – vergebens. Der frühere Papst Benedikt XVI. hat eine eigene Vatikan-Behörde zur „Neuevangelisierung“ des Westens ins Leben gerufen, ohne die Säkularisierung aufhalten zu können. Jetzt stehen die Taufwilligen vor der Tür – und viele Pfarrer der beiden Volkskirchen fragen sich verunsichert: Darf man das? Darf man Flüchtlinge missionieren?

Jesus sagt zu den Jüngern: "Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker"

Bei den Freikirchen hat man die Zweifel nicht. Die Dreieinigkeitskirche in Steglitz gehört zur Selbständig-Evangelisch-Lutherischen Kirche, einer theologisch eher konservativ ausgerichteten Freikirche. Ihr Pastor Gottfried Martens meint: Klar darf man missionieren. Denn in der Bibel sagt der auferstandene Jesus zu seinen Jüngern: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker. Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Martens nimmt den biblischen Taufbefehl ernst. Mittwochnachmittags sitzen die Neuankömmlinge in seinem Taufkurs. Es geht um Glaubensgrundsätze, das Kirchenjahr, die Gottesdienstordnung. Martens hält Frontalunterricht, ein Dolmetscher übersetzt in Farsi. Vier Monate dauert der Kurs, am Ende steht eine Prüfung: Martens spricht mit den Taufbewerbern über ihren Glauben und erwartet „nachvollziehbare“ Antworten auf die Frage, warum einer Christ werden will. Beim vorigen Kurs haben 170 von 250 Angemeldeten bestanden. Milad Faghih zum Beispiel. Er ist 27 Jahre alt, IT-Fachmann und stammt aus Shiraz im Süden des Iran. Sein Bruder ist nach Australien ausgewandert und dort Christ geworden. Er fand es faszinierend, was ihm sein Bruder über die neue Religion erzählte, und so freundete er sich mit Christen in Shiraz an. Dadurch habe er Probleme mit dem Regime bekommen. Die Familie musste fliehen. Milad sagt, der Islam habe sich im Iran völlig diskreditiert. Viele Kleriker wirtschafteten in die eigene Tasche und traktierten die Menschen mit ihren Verboten, wie es ihnen passe. „Jesus ist Liebe und Freiheit, im Christentum gibt es keinen Zwang“, sagt der junge Mann. Das sei befreiend.

Die meisten Taufbewerber sind Iraner

Die meisten Flüchtlinge, die in Deutschland Christen werden wollen, stammen aus dem Iran. Es gibt unter gebildeten Iranern eine Bewegung weg vom Islam, sagen Iran-Experten. Das Christentum gilt als weniger repressiv und als eine Art Protestreligion. In den vergangenen Jahren sind Untergrundkirchen entstanden. Doch wie viele sich dort treffen, ist schwer herauszufinden. Pastor Martens beobachtet, dass es in einigen Punkten eine Nähe zwischen dem Christentum und dem schiitischen Islam gibt, der im Iran Staatsreligion ist. So hätten die Iraner einen besonderen Zugang zur Leidensgeschichte Jesu. Die Schiiten kennen Selbstgeißelungen und betrauern ausgiebig den Tod des Prophetenenkels Hussein in der Schlacht von Kerbala.

In Martens' Kirchenvorstand haben die Iraner vorgeschlagen, das schlichte Holzkreuz über dem Altar durch ein Kruzifix mit einem blutüberströmten Jesus zu ersetzen. Natürlich gibt es auch Taufbewerber, die sich durch den Übertritt bessere Chancen im Asylverfahren erhoffen. Aber das sei die Minderheit, sagt Martens. Andere wollen Christen werden, weil sie hier dazu gehören wollen. Pfarrer berichten, dass viele gar nicht wüssten, dass das Christentum in Deutschland keine Staatsreligion ist wie in arabischen Ländern der Islam. Andere sehnen sich nach Gemeinschaft und Orientierung im fremden Land. Für viele ist Pastor Martens wie ein Vater.

Darf man das? Missionieren?

Für konservative Christengruppen ist Martens ein Held. Einer, der endlich einen kleinen Sieg gegen die befürchtete Islamisierung Deutschlands erringt. Die evangelischen Landeskirchen und die katholische Bischofskonferenz sehen den freikirchlichen Pastor mit seinen Massentaufen sehr kritisch. Dafür gibt es Gründe: In der Vergangenheit sind die Christen oft mit überheblich geschwellter Brust ausgezogen und haben Andersdenkenden ihre Religion aufgezwungen oder deren Notlage ausgenutzt, um sie zu bekehren. In den Kreuzzügen und während der Kolonialzeit wurde der biblische Missionsauftrag gründlich missbraucht. Die Volkskirchen haben daraus gelernt. Doch nun schlägt das Pendel in die andere Richtung aus. Die Scheu, anderen etwas aufzudrängen, ist so groß, dass man den Eindruck bekommen kann, die Kirchen hätten Angst vor den Taufbewerbern aus Nahost.
Die Evangelische Kirche im Rheinland distanziert sich gleich ganz von Jesu Aufforderung, die Völker zu taufen. In einem Diskussionspapier heißt es: „Eine Begegnung mit Muslimen in Konversionsabsicht bedroht den innergesellschaftlichen Frieden und widerspricht dem Geist und Auftrag Jesu Christi und ist entschieden abzulehnen“. Der biblische Missionsbefehl sei heutzutage eher als „innerkirchlicher Auftrag“ aufzufassen.
Für Heinrich Bedford-Strohm, den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, ist Mission „eine völlig unverzichtbare Dimension des Christseins. Es wäre unverantwortlich, nicht von der Menschenfreundlichkeit Gottes zu reden“. Doch auch er rät zur Zurückhaltung: Man dürfe die Hilfe für Flüchtlinge nicht missbrauchen, um sie zu bekehren. „Sie müssen von sich aus Interesse am Glauben finden.“ Doch wenn sich zwei sympathisch finden, lässt sich da genau trennen, wer wirbt und wer entgegenkommt?

In der Vergangenheit haben Christen oft anderen den Glauben aufgezwungen

Auch in der katholischen Kirche ist die Sorge groß, etwas falsch zu machen. Sie legt die Hürden für den Übertritt so hoch, dass sie für Flüchtlinge schier unüberwindlich sind. Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen dürften nicht zur Taufe geführt werden, heißt es in einer Broschüre aus dem Bistum Aachen. Doch die meisten Flüchtlinge sind erstmal abhängig – vom deutschen Staat, von der Hilfe der Ehrenamtlichen, und falls sie den Weg in eine Kirche finden, von der Gemeinschaft dort. Auch sollte das Asylverfahren abgeschlossen sein und der Taufbewerber Deutsch können.
Die Zurückhaltung ist verständlich. Doch ist sie auch richtig? Viele Flüchtlinge, die jetzt an die Kirchentüren klopfen, suchen ja tatsächlich nach Orientierung und Religion und wünschen einen Ansprechpartner. Sie nehmen schlicht ein Menschenrecht für sich in Anspruch: das, ihren Glauben frei zu wählen. Durch ihre Zurückhaltung überlassen die Kirchen den anderen das Feld, den Freikirchen, den Evangelikalen, Pfingstkirchen und Zeugen Jehovas. Denen, die weniger Skrupel haben und ausgerechnet den Gruppierungen, denen es bisweilen sehr an Sensibilität fehlt.

Zeugen Jehovas haben keine Scheu, für sich zu werben

Die Zeugen Jehovas haben die Flüchtlingsheime generalstabsmäßig unter sich aufgeteilt und laufen täglich in drei Schichten vor den Hangars am Flughafen Tempelhof auf und ab. Auf ihren Trolleys haben sie Broschüren in Farsi, Arabisch und Englisch dabei – so wie es das interne „Merkblatt zur Bearbeitung von Asylantenheimen“ empfiehlt. Für den Fall, dass sie ein Flüchtling anspricht, haben sie ein paar Brocken Farsi auswendig gelernt und halten die Sprach-App auf dem Smartphone bereit. Auf dem Tablet sind fremdsprachige Videos der Organisation gespeichert. Die theologisch erzkonservativ ausgerichteten Pfingstkirchen nutzen gezielt auch das Internet und die sozialen Medien, um für sich zu werben – und teils sehr krude Methoden. Ein Flüchtling erzählt, dass er in Teheran im Internet auf eine Gruppe in Norwegen gestoßen ist. Schon nach kurzer Zeit wurde ihm ein kleines aufblasbares Planschbecken geschickt. Die Anweisungen, wie er ins Wasser steigen müsse, kamen über Skype, die Taufurkunde per Post.

"Der Islam ist das Böse", sagt der Pastor aus Hamburg

Pastor Martens will mit solchen Gruppierungen nichts zu tun haben und betont: „Ich stelle mich nicht auf Apfelsinenkisten in Flüchtlingsheimen und werbe Muslime an. Die kommen von selbst“. Er hat Recht: Auch unter den Freikirchen gibt es große Unterschiede. Einerseits. Andererseits eint viele ein unangemessenes Schwarz-weiß-Denken.
„Der christliche Gott ist die Liebe, der Islam ist das Böse“, predigt Pastor Albert Babajan. Er leitet in Hamburg die pfingstkirchlich ausgerichtete Alpha- und Omega-Gemeinde und hat dieses Jahr schon schon über 200 Iraner getauft. Babajan stammt selbst aus dem Iran und ist überzeugt: Die Perser sind in biblischer Zeit von Gott auserwählt worden, um Liebe und Freiheit zu erfahren, doch dann hat Satan sie benutzt und vom Glauben abgebracht. Jetzt habe Gott die Iraner nach Deutschland geschickt, damit sie hier vom Islam „befreit“ werden. Jede Taufe ist für Babajan ein kleiner Sieg über den Teufel.
„Unser Glaube ist der Sieg“, ruft auch Pastor Martens in Berlin sonntags von der Kanzel. „Freut euch, in der Siegermannschaft zu sein. Halleluja!“

Siegermentalität und Propaganda verbieten sich

Das Christentum gegen den Islam triumphalistisch auszuspielen, ist theologisch fragwürdig und psychologisch bedenklich. Wer auswandert, muss viele Abschiede bewältigen. Weitere Brüche in der Biografie schaden der Seele noch mehr. Viele Flüchtlinge trauen sich nicht, den Daheimgebliebenen von der Taufe zu erzählen, aus Angst, die Familie könnte den Schritt nicht verstehen.
Gerade weil es so viele berechtigte Einwände gegen die Art der Missionierung gibt, wie sie etliche Freikirchen betreiben, sollten sich die Volkskirchen nicht wegducken, sondern das Thema offensiv angehen. Denn die Nachfrage wird zunehmen. Pfarrer berichten, dass mehr Flüchtlinge bei ihnen anklopfen, je länger die Menschen hier sind und die unmittelbare Not gelindert ist.
Propaganda und Siegermentalität verbieten sich. Die Kirchen sollten aber Antworten auf Fragen geben und selbstbewusst für sich werben – ohne sich aufzumuskeln. Ein erster Schritt wäre eine Bestandsaufnahme. Denn während die Freikirchen genau angeben können, wie viele Flüchtlinge sie schon getauft haben, nennen EKD und Bischofskonferenz keine Zahlen. Wer bei den Landeskirchen und Bistümern nachfragt, kann den Eindruck bekommen, dass man es gar nicht so genau wissen will. Die Auskunft ist überall dieselbe: Die Kirchenstatistik erfasse leider nur die Übertritte vom Katholizismus zum Protestantismus und umgekehrt. Doch die Kriterien für die Statistik lassen sich ja ändern.

Die Volkskirchen sollten das Thema offensiv angehen

Auch was die Sprachenvielfalt und die ethnische und soziale Durchmischung angeht, haben Freikirchen oft einen Vorsprung. Den sollten ihnen die Volkskirchen nicht gönnen, schon gar nicht die katholische, die sich als Weltkirche versteht. Es kann nicht so schwer sein, Glaubensinformationen auf Farsi und Arabisch bereitzustellen. Und warum nicht zumindest vorübergehend Pfarrer speziell mit der Seelsorge für Flüchtlinge beauftragen? Die evangelische Landeskirche Hannover hat seit über 30 Jahren einen „Iranerseelsorger“. Denn nach der Machtübernahme der Ajatollahs im Iran standen schon einmal hunderte Taufbewerber vor der Tür. Auf dem Land, wo die wenigen Pfarrer eh schon überlastet sind, kann die Zusammenarbeit mit gemäßigten Freikirchen helfen, kurzfristig Taufkurse auf die Beine zu stellen.
Die Flüchtlinge können die Gemeinden bereichern und ungeahnten Schwung bringen. Konflikte bleiben dabei nicht aus, doch der gemeinsame Glaube kann Gemeinschaft stiften über die kulturellen Differenzen hinweg. Und wo sonst haben 70-Jährige Anlass, Farsi zu lernen? „Die Flüchtlinge sind ein Gottesgeschenk“, sagt eine ältere Frau in der Dreieinigkeitsgemeinde in Berlin. Sie singt jetzt im deutsch-persischen Chor.

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