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Ungarns Premierminister Viktor Orban war schon häufig auf Kollisionskurs mit der EU. Auch in der Flüchtlingspolitik legt er sich mit Brüssel und mit Berlin an.

© Thierry Charlier/AFP

Mutmaßliche Verletzung von EU-Grundwerten: Orbán-Regierung sieht sich „an den Pranger gestellt“

Die Europäische Union sieht in Ungarn die Rechtsstaatlichkeit in Gefahr, vor einem Jahr wurde ein Verfahren eingeleitet. Nun fand die erste Anhörung statt.

Wegen der mutmaßlichen Verletzung von Grundwerten der Europäischen Union hat sich die ungarische Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán zum ersten Mal einer offiziellen Befragung stellen müssen. Am Montag fand die erste Anhörung des Rats der Europäischen Union im Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn statt.

Fast genau ein Jahr vorher hatte das Europäische Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen, auf Basis mangelnder Rechtsstaatlichkeit gegen den Mitgliedsstaat vorzugehen. Der Rat wurde damals aufgefordert, ein Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags der Europäischen Union gegen Ungarn einzuleiten. Als schlimmste Konsequenz droht dem Mitgliedsstaat nach diesem Verfahren der Verlust seines Stimmrechts.

Vorausgegangen war ein Bericht der damaligen holländischen Grünen-Parlamentarierin Judith Sargentini. Dieser untersuchte von der Presse- bis zur Wissenschaftsfreiheit zwölf Grundpfeiler des Rechtsstaats in Ungarn und stützte sich dabei auf unabhängige Untersuchungen, unter anderem des Europarats und der UN. „Wir sind in der Gefahrenzone“, schlussfolgerte Sargentini damals.

Am Montag wurde Ungarns Justizministerin Judit Varga zwei Stunden lang von den Vertretern der anderen Mitgliedsstaaten zum Bericht befragt. Das geschah hinter verschlossenen Türen, auch danach wurden keine Inhalte kommuniziert. Weitere Anhörungen sollen folgen.

Finnland möchte die Rechtsstaatlichkeit vorantreiben

Ein Jahr lang, unter der österreichischen und rumänischen Ratspräsidentschaft, war wenig passiert. Doch die finnische Ratspräsidentschaft, die von Juli bis Dezember dieses Jahr andauert, will das Thema Rechtsstaatlichkeit auf der Agenda hoch ansetzen.

Das Treffen des Rats für Allgemeine Angelegenheiten am Montag habe „Kollegen aus allen EU-Staaten die Möglichkeit gegeben, sich über die Förderung und den Schutz der Rechtsstaatlichkeit auszutauschen“, sagte Tytti Tuppurainen, finnische Ministerin für Europaangelegenheiten nach dem Treffen. Es gehe darum, was einzelne Mitgliedsstaaten tun können, um die Rechtsstaatlichkeit voranzubringen.

Neuer Mechanismus soll alle Mitgliedsstaaten untersuchen

Denn die jetzigen Sanktionsmöglichkeiten der EU, wenn ein Mitgliedsstaat die Rechtsstaatlichkeit einschränkt, hängen stark von politischen Faktoren ab. Sollte der Ministerrat nach weiteren Anhörungen befinden, dass dies in Ungarn der Fall ist, müssten zunächst vier Fünftel der Mitgliedsstaaten dafür stimmen. Allerdings schützen sich einige gegenseitig vor dem Sanktionswillen der EU.

Die ursprüngliche Berichterstatterin Sargentini freut sich zwar, dass die Finnen das Verfahren nun anschieben. Sie weiß aber auch: „Sie haben das Problem der Politik auf der Ratsebene noch nicht gelöst: Nämlich, dass Polen Ungarn schützt und umgekehrt.“ Ein Verfahren nach Artikel 7 läuft auch gegen Polen, allerdings deckt dieses ein weniger breites Rechtsfeld ab, als bei dem ungarischen.

„Das Artikel-7-Verfahren ist so obsolet wie ineffizient“

„Das Artikel-7-Verfahren ist so obsolet wie ineffizient, ein neuer Mechanismus wird dringend benötigt“, äußerte sich die ungarische Europaparlamentarierin Katalin Cseh, Spitzenkandidatin der liberalen Momentum-Partei, auf Twitter.

Bei der Sitzung am Montag diskutierten die Regierungsvertreter über ein neues präventives Verfahren, dass die Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Staaten untersuchen könnte. Alle Mitgliedsstaaten sollen dazu einen Fragebogen erhalten. Die Ergebnisse sollen bei der Sitzung des Rats im November präsentiert werden.

In den Verhandlungen des mehrjährigen Finanzrahmens (MFF) für die Vergabe der EU-Gelder für die Jahre 2021 bis 2027 spielt auch die Bindung an Rechtsstaatlichkeit eine Rolle. Der nächste Schritt in den Verhandlungen um den MFF steht am 17. Oktober im Ministerrat an.

Ungarn fühlt sich an den Pranger gestellt

Das Verfahren gegen Ungarn sei ein politisches und kein Rechtsstreit, sagt Sargentini. Wichtig sei, dass genug öffentlicher Druck entstünde, dafür müssten die Ergebnisse der Anhörungen aber öffentlich gemacht werden. „Am Ende muss die Veränderung von innen kommen“, sagt Sargentini und weist damit auf die ungarische Regierung.

In deren Verhalten hat sich im vergangenen Jahr wenig getan. Justizministerin Varga, die sich vor einem Jahr noch als Opfer einer „Hexenjagd“ sah, schrieb nun vor der Anhörung auf Twitter, Ungarn würde „an den Pranger gestellt, weil man Masseneinwanderung ablehne“. Die Orbán-Regierung hat ein 158-seitiges Dokument verfasst, in dem sie die einzelnen Konfliktpunkte des Berichts zurückweist.

Noch im Sommer entschied sich die EU-Kommission den Europäischen Gerichtshofs einzuschalten, nachdem NGOs offenlegten, dass Ungarn Migranten in Aufnahmelagern an der Grenze Nahrung verwehre. „Wenn man das weiter geschehen lässt, nehmen sich andere Mitgliedsstaaten ein Beispiel“, sagt Sargentini. Wenn die EU jetzt nicht einschreite, könne sie das später nicht mehr korrigieren.

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