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Bilder einer Überwachungskamera zeigen Anis Amri am 23. Dezember im Hauptbahnhof von Mailand.

© dpa

Nach dem Anschlag von Berlin: Warum wir für Verschwörungstheorien so anfällig sind

Nach dem Anschlag von Berlin blühen die Verschwörungstheorien rund um den Täter. Sie lassen sich aber ganz leicht widerlegen. Ein Gastkommentar.

Ein Kommentar von Ahmad Mansour

Kurz vor Weihnachten hat der islamistische Terror Deutschland erreicht, das Zentrum der Hauptstadt Berlin. Ähnlich wie in Nizza drang ein Mann am Steuer eines Lastwagens in eine Menschenmenge ein. Sein Attentat tötete zwölf und verletzte fast fünfzig weitere Besucher eines Weihnachtsmarktes. Wie in Nizza, wie bei den Anschlägen in Paris, gab ein am Tatort gefundener Ausweis die Identität des mutmaßlichen Täters preis. Er hieß Anis Amri, inzwischen, wie wir wissen, lebt er nicht mehr.

Klar ist: Sein Ausweis im Fahrzeug brachte die  Behörden auf die entscheidende Spur. Wie eine Visitenkarte hatten die mutmaßlichen Mörder ihre Papiere in den Fahrzeugen hinterlassen. Es scheint, als ob sie alle Welt wissen lassen wollten: Ich war das. Doch genau wie nach den Bluttaten von Nizza und Paris kursieren jetzt in den sozialen Medien Videos und Texte mit Verschwörungstheorien, die diese wichtige Tatsache in Zweifel ziehen. Wieso, liest man, hört man, sollte ein Terrorist seinen Ausweis dabeihaben, wenn er das Haus verlässt, um einen Anschlag zu begehen? Wie kann es sein, dass gleich mehrere Terroristen so dämlich sind, ihre Papiere am Tatort zu „vergessen“? Da muss etwas faul sein! Die Lügenpresse will uns hinters Licht führen! Die Behörden machen uns etwas vor! Das Ganze ist inszeniert! Wer glaubt das denn noch?!

Einblendungen am rechten wie am linken Rand

In diesem Duktus werden auf Deutsch, Arabisch, Türkisch, Englisch und in anderen Sprachen serienweise Verschwörungstheorien verbreitet. Etwa auf einer einschlägigen islamistischen Facebook-Seite wie  „Muslimstern“ oder auf anderen Seiten, die Verschwörungstheorien verbreiten wie die bekannte Seite KenFM, gesehen von über 260.000 Zuschauern im Stil einer Nachrichtensendung. Der Sprecher trägt ein gebügeltes Hemd, er ist ordentlich gekämmt, der Hintergrund in neutralem Blau gehalten, alles möglichst „seriös“. Am rechten wie linken Rand gibt es Einblendungen zu der Frage, wie „merkwürdig“ es sei, dass der Berliner Terrorist schon der fünfte arabische Attentäter sein soll, der seinen Ausweis am Tatort hinterlässt. Bezüge zum 11. September 2001 in New York werden hergestellt – auch dort habe man in den Trümmern „seltsamerweise“ den unversehrten Ausweis eines der Todespiloten gefunden, aber keine Triebwerkteile oder Ähnliches gefunden. Vielsagend deutet der Sprecher an, dass die Täter von Paris, Nizza und Berlin, die auf der Flucht erschossen wurden, ja nun auch nichts mehr vor Gericht aussagen könnten.

Oft gesehen und geteilt wird auch die ironisch gemeinte Szene mit der umsorgenden Gattin eines Terroristen, der maskiert und in voller Montur das Haus verlassen möchte. Sie fragt ihn, ob er denn auch alles dabei habe, Kalaschnikows, Raketenwerfer, Munition – den Ausweis? Gezeigt werden häufig auch Fotos von LKW-Fahrerkabinen, die belegen sollen, dass es rein physisch unmöglich sei, einen Ausweis so zu verlieren, dass er unter dem Fahrersitz landet. Mokant werden „Terroristen-Starter-Pakete“ angepriesen, zu denen ein Ausweis gehört. Einer der sarkastischen Kommentare erklärt, auch der Berliner Terrorist habe sich „brav an die Ausweispflicht für Terroristen gehalten“. Die Message ist jedes Mal: Leute, ihr werdet belogen!

Die vermeintlichen Täter sind in Wahrheit die Opfer einer Verschwörung! Das Motiv der Lügner: Sie wollen dem Islam schaden, Muslime diskreditieren, die Aufrüstung eines Polizeistaats begünstigen und dergleichen mehr. Was wie kritisches Kommentieren daherkommt, ist tatsächlich Teil einer perfiden Strategie. Es geht darum, Nachrichten und deren Quellen – Behörden, Journalisten – unglaubwürdig zu machen. Wer allerdings ernsthaft kritisch nachdenkt, sieht die Logik, die Psycho-Logik exakt  hinter diesem Handeln der Täter. Denn Terroristen sind Narzissten. Sie wollen nicht nur massiven Schaden anrichten, sondern auffallen. Sie suchen ihren „moment of fame“ – ihr Name, ihr Foto soll um die Welt gehen, die Tat soll ihre Signatur tragen. Daher erkläre ich: Nein, sie vergessen ihre Ausweise keineswegs. Sie lassen sie ganz bewusst am Ort. Man denke nur an Batmans abscheulichen Widersacher, den „Joker“. Nach jeder Tat hinterlässt er zynisch und selbsttrunken seine Visitenkarte – ein Täter-Szenario, das auch aus Krimis bekannt ist.

Den Tätern geht es um Ruhm und Aufmerksamkeit

So kalkuliert der Attentäter: Was würde ihm seine Tat nützen, wenn nicht alle „Brüder“ und „Schwestern“ und erst recht alle Ungläubigen wüssten, wer warum das Massaker angerichtet hat? Die Öffentlichkeit wüsste nicht, ob der Täter nur ein Verwirrter war, anstatt zu erkennen oder anzuerkennen, dass er politisch-religiös motiviert war. In den Tagen nach den Anschlägen von Paris, Nizza oder Berlin waren die Täter die meistgesuchten Menschen in Europa. Ihre fotografierten Gesichter wurden von Millionen Augen gesehen: Das ist der Ruhm, die Aufmerksamkeit, um die es den Tätern geht. Sie träumen vom heldenhaften Abgang, vom Märtyrerstatus, vom Paradies.

Wie schändlich wäre stattdessen das jahrelange Dahinleben in einer Haftanstalt. Die Verachtung des irdischen Lebens, die Orientierung am Jenseits, die aus dem buchstabengläubigen Denken von Islamisten resultiert, erscheint ihnen als Ausweg. Ganz pragmatisch spielt auch noch eine Rolle, dass kein Attentäter unterwegs zu seinem erkorenen Tatort von einer Routinekontrolle aufgehalten werden weil, weil er sich nicht ausweisen kann. Und tatsächlich gilt ja die Ausweispflicht für jeden, auch für angehende Terroristen. So ist das Vorbeugen vor Verkehrskontrollen ein ganz plausibler Grund, den Ausweis bei sich zu haben. Dazu braucht es keine Geheimabkommen, Weltherrscherclans und Lügenpresse.

 Ein klassisches Narrativ der Islamisten

Doch woher kommt die magnetische Anziehungskraft von Verschwörungstheorien? Eine Hauptursache ist ihre Schlichtheit in Sachen Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Je komplexer die Welt, desto wohltuender ist die Illusion, die Dinge zu durchschauen, die bedrohlich wirken oder nicht ins Weltbild passen. Man muss nur ins ausklingende Jahr 2016 zurückblicken, um zu sehen, wie sich Ängste summieren – Asylsuchende, Terror, Aleppo, der Nahe Osten, Russland, Donald Trump. So vieles scheint bedrohlich und überfordernd. Für Verschwörungstheorien, die suggerieren, dass man weiß wer oder was „dahinter steckt“, sind nicht nur muslimische Jugendliche sehr empfänglich, die ihre Religion in Misskredit gezogen sehen, sondern Jugendliche und junge – sogar manche älteren - Erwachsenen generell.  Doch gerade die dichotomische Weltsicht, in der Muslime Opfer von „Ungläubigen“ sind, verbreitet sich derzeit besonders rasch – sie ist ohnehin ein klassisches Narrativ der Islamisten.

So lässt sich der notwendigen Frage ausweichen, warum solche Gräueltaten im Namen der eigenen Religion überhaupt geschehen. So lässt sich auch die Notwendigkeit der Reformen umschiffen, derer die meisten islamischen Gemeinden dringend bedürfen. Doch genau an dieser Stelle müsste echtes kritisches Denken eigentlich ansetzen. Man müsste deutlich machen, dass Menschen im Namen eines regressiven, ahistorischen Islamverständnisses getötet werden und dieses hinterfragen. Solange diese Art des Verständnisses aber tonangebend ist, solange Kindern die Angst vor der Hölle gepredigt und sexuelle Lust verteufelt wird, wird sich wenig ändern.

Erst wo die heiligen Texte auch historisch-kritisch betrachtet werden dürfen, kommt Bewegung ins Denken. Erst dann kann sich ein alternatives Religionsverständnis entfalten, das Kritik zulässt und aushält. Sicher: Auch bei den Sicherheitsorganen ist im Fall von Anis Amri einiges gewaltig schiefgelaufen. Dennoch vertraue ich dem Rechtsstaat und seinen Organen, und unterstütze die Arbeit für die Aufklärung und Prävention solcher mörderischen Taten.

Nicht unkommentiert im Raum stehen lassen

Wichtig wäre es allerdings, dass Polizei und Behörden die grassierenden Verschwörungstheorien nicht unkommentiert im Raum stehen lassen, sondern klar und deutlich Stellung beziehen. Durch Transparenz und Offenheit müssen diese Thesen entkräftet werden, besonders im Netz. Die aktuelle Causa zeigt in drastischer Deutlichkeit: Die gesamte Zivilgesellschaft muss sich die sozialen Medien zurückerobern. Sie muss aktiv werden und Gegennarrative zu diesem aus dem Ruder laufenden, hunderttausendfach verbreiteten Blödsinn bis Wahnsinn schaffen. Was in den wachsenden Parallelwelten vor sich geht, muss alle Demokraten alarmieren.

Ahmad Mansour ist Psychologe und Autor. Er ist Programmdirektor der "European Foundation for Democracy". Ende 2015 erschien bei S. Fischer sein Buch: „Generation Allah. Wieso wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen“.

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