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Politik: Nach dem EU-Gipfel wird in der Türkei ein altes Tabu diskutiert

Für die einen ist es das Normalste der Welt, für die anderen der Anfang vom Ende der staatlichen Einheit. Die Frage, ob in der Türkei Fernsehen in kurdischer Sprache zugelassen werden soll, mag angesichts des 15-jährigen Krieges im Kurdengebiet mit seinen 31 000 Toten auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen.

Für die einen ist es das Normalste der Welt, für die anderen der Anfang vom Ende der staatlichen Einheit. Die Frage, ob in der Türkei Fernsehen in kurdischer Sprache zugelassen werden soll, mag angesichts des 15-jährigen Krieges im Kurdengebiet mit seinen 31 000 Toten auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen. Doch die Sprachfreiheit auf dem Bildschirm berührt direkt die Wurzel des Konfliktes: Kann die Türkei auch dann ein einheitlicher Staat sein, wenn einige seiner Bürger eine eigene kulturelle Identität für sich beanspruchen?

Seit Jahren wurde diese Frage in Ankara mit einem klaren Nein beantwortet. Staatspräsident Süleyman Demirel bekräftigte noch vor Wochen, die Zulassung kurdischer Fernsehsender würde die Einheit des Landes bedrohen. In der Türkei ist die Erinnerung an die Teilungspläne des Westens nach dem Ersten Weltkrieg und die damals vorgesehene Errichtung eines Kurdenstaats noch wach; sie ist auch stark genug, um bei Rufen nach Autonomie die Alarmglocken schrillen zu lassen, selbst wenn es nur um kulturelle Selbstbestimmung geht. Doch nach der Anerkennung als EU-Kandidat muss die Türkei viel stärker als vorher europäische Ansichten in Betracht ziehen, wenn sie eines Tages auch Beitrittsverhandlungen aufnehmen will. Niemandem in der türkischen Regierung ist dies bewusster als Außenminister Ismail Cem, der jetzt eine Diskussion über das Tabuthema kurdisches Fernsehen lostrat - natürlich im Fernsehen. "Ich spreche hier in meiner Muttersprache", sagte der Minister im Sender CNN Türk. "Jeder sollte in seiner Sprache im Fernsehen sprechen dürfen. Das glauben wir, und die Europäische Union misst diesem Thema große Bedeutung zu."

Nicht nur die EU. In seinem Hochverrats-Prozess auf der Gefängnisinsel Imrali im Juni appellierte PKK-Chef Abdullah Öcalan mehrmals an den türkischen Staat, den Kurden Sprachfreiheit einzuräumen. Öcalan gab zu erkennen, dass er dies als Kernforderung betrachtet, deren Erfüllung ein Ende des Kurdenkonflikts einleiten würde. Seit 1991 ist die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereich erlaubt, auch eine Vielzahl kurdischer Medien gibt es inzwischen: Nach einer sicherlich nicht zufällig nach dem Helsinki-Gipfel veröffentlichten Statistik des türkischen Presseamtes existieren zur Zeit zehn kurdische Zeitungen und Zeitschriften sowie zehn Rundfunkstationen mit kurdischer Musik. Einfach haben es diese Medien aber nicht. So müssen die Radiosender sehr darauf achten, dass die von ihnen gespielten Lieder unpolitisch sind - immer wieder erhalten sie Sendeverbot, wenn die Behörden versteckte separatistische Botschaften in den Volksliedern zu erkennen glauben. Deshalb ist es kein Wunder, dass sich auch in der Regierungskoalition in Ankara rasch Politiker fanden, die Cems Denkanstoß ablehnten.

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