zum Hauptinhalt

Nach dem: Karlsruher Replik

Die Richter lassen den Vertrag von Lissabon passieren – setzen aber die „Verfassungsidentität“ als neue Grenze für die EU.

Berlin - Der Berg kreißte und gebar – einen Berg, einen aus Papier. Das Bundesverfassungsgericht hat die Klagen zum Lissabon-Vertrag zum Anlass genommen, ein Buch zu schreiben. Über 147 Seiten ist das Urteil stark, dessen Tenor und Begründung die acht Richter am Dienstag in Karlsruhe verkündeten. Hörbar erleichtert, aber zugleich auch gedämpft nahmen die Politiker der großen Parteien den Spruch zur Kenntnis. Es jubelte eigentlich nur einer. Ausgerechnet der, der verloren hatte: Peter Gauweiler, Rechtsanwalt und CSU-Bundestagsabgeordneter und bekannt dafür, dass er gern selber denkt und eigene Schlüsse zieht.

Denn das Urteil gibt dem beklagten Bundestag zwar recht. Sein Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag war verfassungsgemäß. Auch würden die parlamentarischen Nacharbeiten zum Begleitgesetz bald erledigt sein. Doch wofür dann über hundert Seiten?

Der sachkundige Gauweiler hat schnell erkannt, dass hier ein historisches Urteil gefällt wurde. Nicht in dem Sinne, dass durch die Klagen die EU-Reform aufgehalten oder maßgeblich verändert würde. Wohl aber, weil die acht Richter ein staats- und völkerrechtliches Gesamtbild der EU gezeichnet hatten und es dem Bild des deutschen Verfassungsstaates eindringlich gegenüberstellten. In noch keinem Urteil zum europäischen Prozess haben sich die Karlsruher Richter derart kategorisch zur Zukunft der Union geäußert – und zu ihren Grenzen. Und dies auch keineswegs in einer umstrittenen Entscheidung, wie erwartet worden war, sondern im Ergebnis einstimmig. Nur bei der Begründung gab es einen Abweichler.

Das „Strukturproblem“ der EU – hier die Herrschaft des nationalen Souveräns, dort die Herrschaft durch die Gremien des Staatenbundes – hoben die Richter „in den Mittelpunkt der Verfassungsprüfung“. Die EU-Gestaltungsmacht sei, auch durch Lissabon, immer mehr gewachsen, in einigen Politikbereichen sei sie zudem schon „staatsanalog“ organisiert. Wenn aber die EU zu einer Art Staat wird und die Bundesrepublik dort Mitglied, wäre eine „Verfassungsneuschöpfung“ notwendig mit einem klaren Verzicht auf souveräne Staatlichkeit. Dies ist nach dem Lissabon-Vertrag, anders als die Kläger argumentiert hatten, gerade nicht nötig. Die EU gelte weiter als ein „völkerrechtlich begründeter Herrschaftsverband“, der von den souverän bleibenden Staaten getragen werde.

So weit, so kompliziert – aber auch so erwartbar, denn wenn an diesen Grundfesten gerüttelt worden wäre, hätte die Fortentwicklung der EU in Karlsruhe ein jähes Ende gefunden. Dann aber wird die politische Komplizenschaft aufgekündigt, und die Richter ziehen Grenzen für die Reform nach der Reform. Drei richterliche Wortschöpfungen spielen dabei eine Rolle, „Integrationsverantwortung“, der Grundsatz der „Europafreundlichkeit“ und die „Verfassungsidentität“.

Das Grundgesetz ist europafreundlich, sagen die Richter, betonen damit aber letztlich nur etwas, was dort ausdrücklich steht. Wichtiger sei, dass Regierung und Bundestag künftig stärker darauf achten müssen, dass die Union sich nicht selbst Kompetenzen schafft oder, noch wichtiger, die „integrationsfeste Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten verletzt“. Für die Bundesrepublik unter Herrschaft des Grundgesetzes gehören dazu vor allem demokratische Tugenden. Das EU-Regime dürfe „nicht zur Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems in Deutschland führen“. Den Staaten müsse Raum bleiben, ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dinge selbst zu regeln. Die Richter entfalten hier einen Katalog von „Sachbereichen“, die nur in engsten Grenzen an die EU übertragen werden dürften: Strafrecht, Polizei und Militär, fiskalische Grundentscheidungen, Medien, Erziehung, Bildung, auch der Umgang mit Religionsgemeinschaften. Sie sollen die Staaten gestalten dürfen, wie es ihnen passt, hier sollen die nationalen politischen Debatten entscheidend sein, die in den einzelnen Ländern geführt werden. Im Klartext: Wenn sich hier die EU zu weit vorwagt, wird Karlsruhe die Bremse ziehen. Denn das Gericht ermächtigt sich ausdrücklich zur „Identitätskontrolle“.

Die Richter haben gesprochen und lassen den Dingen zunächst ihren Lauf. Mancher hatte gefürchtet, das Verfassungsgericht würde im EU-Prozess entmachtet. Nun sieht es nach dem Gegenteil aus: Brüssel gehört weiter, wie Berlin, zur „Karlsruher Republik“ – mehr denn je.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false