zum Hauptinhalt
Schon den neuen Präsidenten Tebboune lehnten viele Algerier 2019 als Vertreter der alten Garde ab. Dessen Verfassungsentwurf wurde jetzt boykottiert.

© dpa

Nach dem Referendum in der Sackgasse: Eine vertane Chance für Algerien - Druck von außen könnte jetzt helfen

Der Verfassungsentwurf war keine Antwort auf die beeindruckenden Massenproteste. Die Bürger akzeptieren keine Augenwischerei mehr. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Es ist eine dieser frustrierenden Geschichten aus der arabischen Welt, wo ein Regime wieder eine Chance verspielt, seine Bürger ernst zu nehmen und das Land voranzubringen. Stattdessen haben sich die Machthaber in Algier in eine gefährliche Sackgasse manövriert: Die neue Verfassung, über die am Wochenende abgestimmt worden war, nimmt kaum eine der Forderungen der Massenbewegung „Hirak“ auf, die seit Februar 2019 grundlegende Reformen des verkrusteten und korrupten politischen Systems forderte.

Das Präsidentenamt wird weiter gestärkt, eine Intervention der Armee als verfassungsgemäß abgesegnet. Die Protestbewegung, die durch ihre politische Reife und Friedfertigkeit beeindruckte, antwortete mit einem massiven Boykott: Nur 23,7 Prozent stimmten ab. Zwar wurde die Verfassung von einer Mehrheit angenommen – aber zahlenmäßig waren das gerade mal 15 Prozent der Stimmberechtigten. Obwohl das Regime alles versucht hatte, die Menschen an die Wahlurne zu bringen, und die 18 Monate politischer Protest damit zu beenden.

In dieser Situation politischer Unsicherheit fällt auch noch der Präsident aus. Abdelmajid Tebboune wurde wenige Tage vor der Abstimmung nach Deutschland ausgeflogen – wahrscheinlich ist er an Covid-19 erkrankt.

Die Farce um den schwerstkranken Präsidenten hatte 2019 die Massenproteste ausgelöst

Das wirkt wie eine Wiederholung der Geschichte. Denn die Massenproteste hatten 2019 hatten just begonnen, weil der schwerstkranke Präsident Abdelaziz Bouteflika, von seinem Bruder nur noch als Marionette im Amt gehalten und meist zur Behandlung im Ausland, erneut zur Wiederwahl „antreten“ sollte. Diese Farce war zu viel für die Algerier – die wegen der traumatischen Erinnerungen an den Unabhängigkeitskrieg und an das „schwarze Jahrzehnt“ des Kampfes gegen die Islamisten in den 90er Jahren jede Destabilisierung eher scheuen.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können  ]

Ein Ausweg aus der verfahrenen Lage wäre: Die Aktivisten der Massenbewegung Hirak, die es bisher abgelehnt hatten, sich in Parteien zu organisieren, sollten diesen Schritt gehen. Das könnte einen langsamen Reformprozess durch die politischen Institutionen anstoßen. Wenn das Regime ihn zulässt – und auch die Meinungsfreiheit wieder restauriert: Sie war jahrzehntelang relativ groß gewesen – die Machthaber hatten sich fest genug im Sattel gefühlt. Das ist jetzt anders: Der unabhängige Journalist Khaled Drareni wurde kürzlich zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, das Urteil schockierte Algerien.

Ohne Druck aus dem Ausland, von EU und Deutschland, wird sich aber wenig bewegen. Ansonsten könnten die Islamisten als organisierte Alternative zum bankrotten System Zulauf bekommen. Neue Verfassung, altes Spiel – diese Augenwischerei nehmen die Algerier nicht mehr hin.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false