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Politik: Nach dem Straßburger Appell steht die Türkei am Scheideweg - Regierung vertagt Entscheidung über Hinrichtung Öcalans

Eineinhalb Stunden lang diskutierten die türkischen Koalitionspartner am Dienstagabend über den Aufruf des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, dann gaben sie es auf und vertagten die Entscheidung. Die Bitte der Europa-Richter, die Hinrichtung von PKK-Chef Abdullah Öcalan bis zum abschließenden Urteil im Straßburger Verfahren auszusetzen, kam auch für Ankara nicht überraschend; dass die Regierungskoalition es in der eilig einberufenen Sondersitzung trotzdem nicht schaffte, sich auf eine Antwort zu einigen, zeigt, wie schwer die Entscheidung ihr fällt.

Eineinhalb Stunden lang diskutierten die türkischen Koalitionspartner am Dienstagabend über den Aufruf des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, dann gaben sie es auf und vertagten die Entscheidung. Die Bitte der Europa-Richter, die Hinrichtung von PKK-Chef Abdullah Öcalan bis zum abschließenden Urteil im Straßburger Verfahren auszusetzen, kam auch für Ankara nicht überraschend; dass die Regierungskoalition es in der eilig einberufenen Sondersitzung trotzdem nicht schaffte, sich auf eine Antwort zu einigen, zeigt, wie schwer die Entscheidung ihr fällt. Keine zehn Tage vor dem Gipfel der Europäischen Union in Helsinki steht die Türkei nun endgültig am Scheideweg zwischen der lange ersehnten Rache an dem Rebellenchef und dem noch länger angestrebten Aufbruch nach Europa.

Ministerpräsident Bülent Ecevit begründete die Vertagung der Entscheidung damit, dass das juristische Verfahren in der Türkei noch nicht völlig ausgeschöpft sei und die Regierung daher nicht eingreifen könne. Tatsächlich kann Öcalan nach türkischem Recht noch beim Generalstaatsanwalt eine Revision seines Todesurteils beantragen; dabei handelt es sich im konkreten Fall aber lediglich um einen formalen Schritt, dem auch von türkischen Juristen keine Aussichten auf Erfolg beigemessen werden. Die Klausel bot der Regierungskoalition aber die Gelegenheit, die schmerzhafte Entscheidung noch ein letztes Mal aufschieben zu können. Damit ist nun aber bald Schluss. Zwar dauert die Einspruchsfrist beim Generalstaatsanwalt noch bis Weihnachten, doch für die türkische Regierung läuft die Zeit des Lavierens nächste Woche ab. Am Freitag nächster Woche beginnt in Helsinki der EU-Gipfel, von dem sich die Türkei die Anerkennung als Beitrittskandidat erhofft. Die Zustimmung der Europäer steht aber ohnehin auf Messers Schneide; die türkische Regierung ist zumindest noch eine Geste schuldig, um die Zweifler in der EU von ihren demokratischen Absichten zu überzeugen.

Sollte Ankara daher bis zum Gipfel nicht der Bitte der Europa-Richter nachgekommen sein und die Aussetzung der Todesstrafe garantiert haben, dürfte dies in Helsinki wohl als Absage an Europa gewertet werden; aus der Kandidatur würde dann nichts. Die Mehrheit des türkischen Establishments und auch des Kabinetts plädiert deshalb dafür, auf die Hinrichtung zu verzichten. "Es ist im Interesse der Türkei, Öcalan am Leben zu lassen", argumentiert etwa Europaminister Mehmet Ali Irtemcelik. Dem kann aber die rechtsextreme Partei des Nationalen Aufbruchs (MHP), zweitstärkste Partei in der Regierungskoalition, nicht zustimmen. Die MHP kam mit dem Wahlversprechen an die Macht, sich kompromisslos für die Hinrichtung des PKK-Chefs einzusetzen. Das Tauziehen wird zwar vermutlich mit einem Rückzug der Rechtsextremisten enden. Bisher hatte die Regierung aber noch gehofft, diesen Zwist erst gar nicht öffentlich austragen zu müssen und die Entscheidung über Leben oder Tod Öcalans auf ewig vertagen zu können. Schließlich muss die Akte vor der Abstimmung im Parlament noch Justizministerium, Ministerpräsidentenamt, Parlamentspräsidium und zuletzt den Rechtsausschuss passieren - wo bereits Dutzende andere Todesurteile unvollstreckt verstauben. Doch mit dem Ersuchen um einen offiziellen Hinrichtungsstopp hat das Europäische Menschenrechtsgericht den Politikern in Ankara die Pistole auf die Brust gesetzt. Die Türkei muss nun Farbe bekennen.

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