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Reißen wir die Mauern ein, machen wir etwas draus! Bundespräsident Steinmeier bei seiner Jubiläumsrede.

© imago images/epd

Nach der 30-Jahre-Feier: Deutschland hat etwas nachzuholen

Eine Festwoche geht zu Ende - ein Auftrag bleibt: Die Menschen wollen sichtbarer werden. Na also: Dann soll man das jetzt anpacken. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Ide

Die Frau weint, während sie erzählt. Dass sie den Mauerfall verpasst hat, damals, in der Stadt ihres Herzens. Dass sie jetzt alles nachholen will.

Der Mann ballt die Faust, während er erzählt. Dass er Freude und Trauer im Herzen trage, heute nach 30 Jahren. Dass das dazu gehört, wenn man ein Deutscher ist, gerade an einem 9. November.

Das Einfache war das Schöne an der fulminanten Festwoche des Mauerfalls in Berlin: Die Menschen zeigten sich von ihrer offenen, herzlichen, eben menschlichen Seite: Sie erzählten, lachten, weinten, drängten sich vorm Brandenburger Tor und an den Festorten, an denen Bilder der friedlichen Revolution über Häuserwände flimmerten, fuhren mit der U-Bahn von Ost nach West oder wärmten sich an ihren Erinnerungen an der Bornholmer Straße, wo in jener Nacht die Mauer fiel und ein neues Leben begann.

"Reißen wir die Mauern endlich ein!"

Manche hatten Kerzen in der Hand. Alle hatten Bilder im Kopf. Und viele haben wohl das empfunden, was die weinende Frau empfunden hat: dass Deutschland etwas nachzuholen hat. Beim Erzählen. Beim Zuhören. Beim Miteinander.

Der Mann mit der Faust, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, fand im Moment des Miteinanders das Momentum für seine erste große Präsidentenrede. Er beklagte neue Mauern im immer noch nicht einigen Land, „Mauern aus Frust, Mauern aus Wut und Hass, Mauern der Sprachlosigkeit und Enttäuschung“. Und er rief unter Bravorufen am Brandenburger Tor: „Reißen wir diese Mauern endlich ein!“

Genau das kann Deutschland jetzt tun: etwas draus machen.

Lernen, auf die Beine zu kommen

Die Einheit war überstürzt und in Teilen überheblich. Es wuchs nicht leicht zusammen, was zusammengehört. Aber die Revolution hat gezeigt, was Menschen zusammen schaffen können. Im Umbruch danach, der in Ostdeutschland jede Biografie auf den Kopf stellte, lernten die Menschen, wieder auf die Beine zu kommen. Nun ist es Zeit, diese Zeitenwende ins Positive zu wenden.

Deutschland muss sich in einer unübersichtlichen, sich digital schneller drehenden Welt ohnehin neu erfinden, und das mit Zuversicht. Und mit grundsätzlichen Reformen: Ein Bundestag mit 700 Abgeordneten wirkt wie eine Welt für sich; eine Bundeskanzlerin in ihrer vierten Amtszeit kann nicht inspirieren. Die Menschen auf dem und im Lande müssen sichtbarer und hörbarer werden; warum nicht wieder mit runden Tischen auf lokaler Ebene? Mitmachen statt meckern – das geht, das kann man organisieren, es gibt längst neue, auch digitale Angebote.

Alle müssen sichtbar sein

Und es braucht Neugier aufs Neue. Die Menschen haben sie nicht verloren, das hat sich an diesem 9. November gezeigt. Viele Ostdeutsche bringen eine Erfahrung mit, die dem ganzen Land helfen kann: Sie haben sich auf Ungewohntes eingelassen. Sie haben – wie auch Menschen aus aller Welt, die hier eine neue Heimat finden – einen anderen Blick auf unser Heute. Der kann helfen, mit Umbrüchen umzugehen, so wie die neuen Fragen und Erzählungen 30 Jahre danach helfen, besser zu begreifen, wie wir wurden, was wir sind. Deshalb braucht es mehr Repräsentanz unterschiedlicher Herkünfte an Universitäten, in Konzernen, in der Verwaltung unserer Demokratie. Und es braucht Mut, Hass nicht zuzulassen. Denn auch das konnte man lernen in 30 Jahren: Nur gemeinsam machen wir etwas Gutes draus.

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