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Angela Merkel spricht von einem "Einschnitt für Europa". Da gebe es nichts drumherum zu reden, sagte die Kanzlerin.

© dpa

Nach der Brexit-Entscheidung: Merkel & Co. von der Insel kalt erwischt

Die Entscheidung der Briten hat die Politiker in Berlin überrascht. Was aus dem Schock folgt, darüber gehen die Meinungen diametral auseinander.

Von Robert Birnbaum

Das Brexit-Votum der Briten kommt für die deutsche Regierungspolitik als böse Überraschung. "Damn!" twittert SPD-Chef Sigmar Gabriel morgens um kurz nach Sechs seinen Frust in die Welt – Verflucht! "Ein schlechter Tag für Europa." Unionsfraktionschef Volker Kauder ist die Erschütterung noch drei Stunden später deutlich anzumerken. Von einer "unfassbaren Entscheidung" spricht der Christdemokrat: "Ich hätte nie geglaubt, dass so etwas möglich ist."

Damit ist er in großer Gesellschaft. Bis zu Angela Merkel hatten alle gehofft, dass es so schlimm schon nicht kommen werde bei dem Referendum im Vereinigten Königreich. Am Mittag tritt Merkel im Kanzleramt vor die Presse und drückt ihr "großes Bedauern" über die Entscheidung aus. Die Kanzlerin hat am Morgen mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und mit Frankreichs Präsident François Hollande telefoniert; gemeinsam mit dem italienischen Regierungschef Mattheo Renzi kommen beide am Montag, einen Tag vor dem EU-Gipfel, zum Krisentreffen nach Berlin.

Kurz vor ihrem öffentlichen Auftritt hat Merkel auch mit den Partei- und Fraktionschefs der Parteien im Bundestag gesprochen. Die zentrale Botschaft fasst ein Teilnehmer so zusammen, dass es keine Schnellschüsse geben werde. Und: Die Gemeinschaft beisammen zu halten, sei vorrangig. Merkels öffentliche Einordnung fällt knapp aus: "Es gibt nichts darum herum zu reden: Der heutige Tag ist ein Einschnitt für Europa." Merkel gibt zugleich zu, dass die grundsätzliche Abwendung von Europa in allen Ländern der Gemeinschaft zunimmt. Sie lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass die Rest-EU der 27 in einer "Welt in Unruhe" um so fester zusammenstehen müsse als Werte-, Interessen- und Friedensgemeinschaft: "Die Europäische Union ist stark genug, um die richtigen Antworten auf diesen Tag zu geben."

Der Brexit dürfe nicht zum Vorbild für andere werden, heißt es

Tatsächlich ist aber auch Merkel klar, dass das viel leichter gesagt als umgesetzt ist. Alleine schon der Austritt der Briten und die Neuregelung der Beziehungen werde ein "echter Balanceakt", sagt einer aus ihrem Beraterkreis. Einerseits könne niemand ein Interesse daran haben, dass es der bisher zweitgrößten Volkswirtschaft Europas schlecht gehe. Andererseits dürfe den Briten jetzt kein "Rosinenpicken" erlaubt werden – alles, was für sie gut ist, bleibt auch nach dem Ausscheiden bestehen, alle echten oder gefühlten Nachteile fallen weg. "Der Brexit darf nicht zum positiven Vorbild für andere geraten", heißt es. Insofern müsse die Warnung von Finanzminister Wolfgang Schäuble und anderen vor der Abstimmung weiter gelten: "Out is out", wer draußen ist, ist draußen und darf nicht mehr mitbestimmen.

Merkel selbst nennt denn auch als Ziel ein Verhältnis, das "eng und partnerschaftlich" sei vor allem mit Blick auf die Bürger und die Wirtschaft. Sie betont aber zugleich, dass es für den Austritt ein "festgelegtes und geordnetes Verfahren" gebe und dass Großbritannien bis zu dessen Abschluss EU-Mitglied bleibe – "alle Rechte und Pflichten" eingeschlossen. Das ist einerseits eine Absage an Wahlkampfversprechen der britischen Brexit-Befürworter, dass lästige Pflichten etwa aus der EU-Einwanderungspolitik am Tag danach aufgekündigt würden. Es ist vor allem aber eine deutliche Warnung an die britische Regierung, nicht auf Zeit zu spielen und auf den Versuch, sich selbst ein Austrittsverfahren zusammenzubasteln. Diese Sorge ist begründet. Der scheidende Premier David Cameron kündigt schon an, dass man sich mit der amtlichen Austrittsmitteilung an die EU gut bis Oktober Zeit lassen könne, wenn sein Nachfolger sein Amt angetreten habe.

Die Frage nach der Rolle der Flüchtlingspolitik ist aufgeworfen

Cameron ist im politischen Berlin sowieso gründlich unten durch. Zehn Jahre lang habe der Premier der EU alles in die Schuhe geschoben, was daheim schief lief, damit den Boden für seine Niederlage selbst bereitet und zuletzt aus rein innenpolitischem Kalkül Europa in die Krise gestürzt, schimpft einer aus der Regierungsspitze. Ein SPD-Abgeordneter nennt den Briten schlicht "Versager". Erschüttert sind viele aber auch über den "Sieg der Simplifizierung", wie es einer nennt – wie leicht da eine oft platte, aggressive Kampagne eine Mehrheit gefunden habe.

Was aus dem Schock folgt, darüber allerdings gehen schon in Deutschland die Meinungen diametral auseinander. Gabriel fordert einen "Neuanfang" hin zu einem "sozialeren" Europa, CSU-Chef Horst Seehofer eine EU ohne "Zentralismus und Gleichmacherei", der Deutsche Gewerkschaftsbund ein Ende der Sparpolitik und überhaupt sieht sich, knapp zusammengefasst, jeder durch das Brexit-Votum in dem bestätigt, was er immer schon gefordert hat. AfD und FDP machen überdies Merkels Flüchtlingspolitik mitverantwortlich – die "Alternative" offen, FDP-Chef Christian Lindner indirekt mit dem Hinweis auf "die Abhängigkeit von Erdogan", die er zum mitentscheidenden Faktor für das Votum der Briten erklärte.

Auch in der Sondersitzung der Unionsfraktion klang das Thema an. "Die Integrationsfrage", sagte dort die Leipziger CDU-Abgeordnete Bettina Kudla, habe "eine Rolle gespielt". Die Fraktion, berichtet ein Teilnehmer, quittierte den Satz mit Gemurre. Merkel selbst hielt dagegen, eine Integrationsfrage habe in der Tat eine Rolle gespielt in Großbritannien, allerdings eine andere, nämlich die Arbeitnehmer-Freizügigkeit in Europa. Aber Angela Merkel weiß: Die Frage nach der Rolle der Flüchtlingspolitik ist aufgeworfen.

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