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Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier

© dpa

Nach der Bundestagswahl: Die SPD sucht nach dem kleineren Übel

Opposition oder große Koalition - die SPD trägt einen schweren inneren Konflikt aus. Überwiegt die Angst vor der Marginalisierung oder die Lust am Mitregieren?

Von Hans Monath

Hilde Mattheis ist eigens eine Viertelstunde früher gekommen. Vor dem Fraktionssaal der SPD im dritten Stock des Reichstags steht die Abgeordnete aus Baden-Württemberg am Dienstagmittag vor Dutzenden von Mikrofonen und präsentiert ihre Alternativen zur großen Koalition. Die Parteiprominenz läuft erst zum Beginn der ersten Fraktionssitzung nach der Wahl um 13 Uhr ein, ihr ist alle Aufmerksamkeit sicher.

In der SPD ist es in diesen Tagen wichtig, die Deutung der Ereignisse zu bestimmen, die seit dem Wahlabend so verworren sind, dass man sie nur schwer ordnen und noch schwerer steuern kann. Für sie persönlich bedeute eine Koalition der SPD gemeinsam mit den Grünen und der Linkspartei keinen Wortbruch, sagt die Parteilinke Mattheis entschieden. Sie fügt hinzu: „Ich glaube auch, dass man über eine Minderheitenregierung nachdenken kann.“ Gemeint ist, dass sowohl SPD wie Grüne eine Koalition mit Angela Merkel ausschlagen und sich die Kanzlerin von Fall zu Fall ihre Mehrheiten suchen muss.

Es ist die Position einer kleinen Gruppe in ihrer Partei, die Mattheis im Reichstag verbreitet – selbst die Mehrheit ihres linken Parteiflügels will nicht mit der Linkspartei koalieren. Aber in einem trifft die Abgeordnete sehr genau die Seelenlage ihrer SPD: Die Aussicht auf eine Neuauflage der großen Koalition unter Merkel ist ein Albtraum, dem die Genossen liebend gern entkommen würden – um fast jeden Preis, aber wohl nicht um den Preis von Neuwahlen, bei denen Merkel erneut triumphieren und die FDP wiederauferstehen könnte. Neuwahlen drohen aber, wenn sich die SPD auf Dauer verweigert.

Glaubt man der offiziellen Darstellung der Sozialdemokraten, dann sind in Wirklichkeit nun sie und nicht die Kanzlerin die bestimmende Kraft. Obwohl Merkels Union den Abstand zu ihnen auf gewaltige 16 Prozent vergrößern konnte. „Angela Merkel hat bereits bei SPD-Parteichef Sigmar Gabriel angefragt“, heißt es vollmundig auf der Homepage der Partei, „muss sich aber gedulden.“ Die triumphal bestätigte Regierungschefin in totaler Abhängigkeit von der 25-Prozent-SPD („muss sich gedulden“) – das ist die Lesart, die auch Gabriel seither verbreitet.

Es ist wohl eine Mischung aus Wunschdenken und Realität, denn Schwarz-Grün scheint unwahrscheinlich, und einen Partner braucht die Kanzlerin, allein um mit einer sicheren Bundestagsmehrheit für mögliche neue Entscheidungen zur Euro-Rettung gerüstet zu sein. Die könnten schon bald anstehen.

Erleichterung bei der SPD ob des Wahlergebnis

In welche seelische Not die Aussicht auf eine erneute Juniorpartnerschaft die Sozialdemokraten stürzt, machte eine Szene am Wahlabend im Willy-Brandt-Haus deutlich: Als die Hochrechnung eines TV-Senders eine absolute Mehrheit für die Union voraussagte, klatschten viele Genossen spontan. So groß war die Erleichterung über die Möglichkeit, sich mit magerem Ergebnis treu zu bleiben und nicht erneut in eine Rolle gepresst zu werden, die 2009 in die Katastrophe führte, dass viele eine noch größere Niederlage in Kauf genommen hätten.

Genau deshalb will Gabriel nun jeden Eindruck vermeiden, er habe sich schon festgelegt. „Die SPD steht jetzt nicht Schlange oder bewirbt sich, nachdem Frau Merkel ihren jetzigen Koalitionspartner ruiniert hat“, verkündete der Parteichef Anfang der Woche. Er kennt die Stimmung an der Parteibasis, und deshalb klang die zweite Hälfte des Satzes, als biete die Kanzlerin mit ihrer Bereitschaft zu Gesprächen den Sozialdemokraten so etwas wie eine tödliche Umarmung an. Nach dem Motto: Merkel, die Frau, die erst uns, dann die FDP ruiniert hat und die uns nun den Rest geben will.

Vor allem in der sozialdemokratischen Hochburg Nordrhein-Westfalen stemmen sich die Genossen gegen den erneuten Gang in die Juniorpartnerschaft mit Merkel. Landeschefin Hannelore Kraft hatte schon am Montag hinter verschlossenen Türen im Bundesvorstand vor dieser Lösung gewarnt – eine Haltung, die sie wenig später dann auch öffentlich vertrat. Die SPD sei bei der Bundestagswahl nicht angetreten, um als Mehrheitsbeschaffer die Union an der Regierung zu halten, sagte die Ministerpräsidentin. Dennoch werde sich die SPD Gesprächen nicht verweigern.

Gabriel vermeidet alles, um den Eindruck zu erwecken, es gebe einen Automatismus hin zur großen Koalition.

Noch härter urteilt der Chef der SPD-Landtagsfraktion in Düsseldorf, Norbert Römer: Niemand in der NRW-SPD wolle eine große Koalition, und weil es keine Gemeinsamkeiten mit der Union gebe, werde es auch nicht dazu kommen. Nach Ansicht Römers hat Merkel mit ihrer Politik dem Land Nordrhein-Westfalen vier Jahre lang geschadet. Eine große Koalition würde die SPD zermürben und vor allem die Linkspartei würde zulegen.

Dazu kommt ein Grund, den Kraft und Römer nicht offen aussprechen: SPD-regierte Landesregierungen können sich gut profilieren gegen ein andersfarbiges Kabinett in Berlin – nicht aber gegen eine Koalition, der ihre eigene Partei angehört. Nicht zufällig warnten am Dienstag auch die SPD-Landesverbände Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg vor der Koalition mit Merkel – in beiden Ländern sind die Sozialdemokraten in der Regierung vertreten.

In der Spitze von Fraktion und Partei in Berlin gibt es dagegen einige, die einerseits an ihre Verantwortung gegenüber dem Land denken, andererseits aber durchaus auch persönliche Interessen mit einer großen Koalition verbinden. Sollte es dazu kommen, dürfte Gabriel als Vizekanzler gesetzt sein. Aber nicht alle in seiner Partei sind sicher, dass er sich das Schlüsselressort Finanzen auch zutraut. Für fast ebenso wichtig halten die Sozialdemokraten das Arbeits- und Sozialministerium, erst dann folgen weitere klassische Ressorts wie Innen- und Verteidigungsministerium. Unklar ist, ob die SPD überhaupt um den Posten des Außenministers kämpfen würde – zu sehr steht das Ressort im Schatten der übermächtigen Kanzlerin.

Gabriel vermeidet alles, um den Eindruck zu erwecken, es gebe einen Automatismus hin zur großen Koalition und gar Posten zu verteilen. Der Parteichef weiß: Die Basis wird er nur dann zur Zustimmung bewegen können, wenn sie den Eindruck hat, dass sie vor einer offenen Entscheidung steht. Zwingen lassen will sie sich nicht und wird sie sich nicht.

Der Parteikonvent am Freitag in Berlin entscheidet

Eine entscheidende Rolle kommt deshalb dem Parteikonvent am Freitag in Berlin zu. Der Bundesvorstand, der am selben Tag zusammenkommt, wird den rund 200 Delegierten einen Verfahrensvorschlag präsentieren – wahrscheinlich geht es darin noch nicht um inhaltliche Knackpunkte, sondern nur um grünes Licht für Sondierungsgespräche. Gabriel scheint auch der Idee gegenüber aufgeschlossen, dass der Parteikonvent sich anschließend vertagt, um zu einem späteren Zeitpunkt dann über wirkliche Koalitionsverhandlungen abzustimmen.

Das Konventsverfahren, das die Partei zusammenführen soll, unterstützen alle Parteiflügel. „Wir sind in einem Prozess“, sagt dazu der Chef der NRW-Landesgruppe, Axel Schäfer: „In einem Prozess weiß man nicht, was am Ende rauskommt, sonst haben wir keinen Prozess, sondern ein Diktat.“ Für das, was seiner Partei nun bevorsteht, bemüht Schäfer eine alte chinesische Weisheit: „Der Weg ist das Ziel.“

Die Erwartung der Sozialdemokraten ist, dass Merkel einen hohen inhaltlichen Preis bezahlen muss, dass sozialdemokratische Versprechen aus dem Wahlkampf sich in einem Koalitionsvertrag mit der Union wiederfinden. Genannt werden der bundesweite Mindestlohn oder die Solidarrente von 850 Euro. Während bei diesen Punkten Kompromisse möglich scheinen, dürfte das SPD-Verlangen nach Abschaffung des Betreuungsgeldes oder nach einer doppelten Staatsbürgerschaft in Merkels Lager auf knallharte Gegenwehr stoßen.

Unklar blieb am Dienstag, wie die Parteispitze mit der Forderungen von immer mehr Landesverbänden nach einem Mitgliederentscheid über das Ergebnis von Koalitionsverhandlungen umgehen will. Da dieses Verfahren mehrere Wochen in Anspruch nähme, hätte Deutschland womöglich auch in dem Fall nicht vor Weihnachten eine neue Regierung, dass sich die Verhandler von SPD und Union noch im November einigen. Ein Mitgliederentscheid würde zudem den SPD-Parteitag entwerten, der vom 14. bis 16. November in Leipzig stattfindet. Der hätte dann nur noch über Personal zu befinden.

Frank-Walter Steinmeier wurde am Dienstag mit 91 Prozent als Fraktionschef wiedergewählt. Der frühere Außenminister wolle nicht zurück ins Kabinett, heißt es in der SPD, er suche Distanz sowohl zu Kanzlerin Merkel als auch zu Gabriel, der dann die Partei weiter führen und im Kabinett sitzen könnte. Aber völlig ausgeschlossen scheint es nicht, dass Steinmeier ein Ressort übernimmt, wenn seine Partei ihn dazu drängt.

Sein Freund Peer Steinbrück hat nicht kategorisch ausgeschlossen, dass er in diesem Fall die Fraktion übernehmen könnte. „Die Frage steht nicht an“, sagte er Anfang der Woche dazu lediglich. Die Spekulationen über die Rolle des Ex-Kanzlerkandidaten hatte Gabriel selbst befeuert, als er ihm dafür dankte, dass der an Bord bleibe und „mit uns gemeinsam die SPD stärken und führen“ wolle. Allerdings ist offen, ob es dabei nur um eine Drohkulisse in Richtung des möglichen Verhandlungspartners von der Union geht oder doch um mehr.

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