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Carola Rackete auf Lampedusa.

© Guglielmo Mangiapane/Reuters

Nach Festnahme der Sea-Watch-Kapitänin: Die Reaktionen im Fall Rackete sind heuchlerisch

Die breite Unterstützung für Carola Rackete verdeckt die Bigotterie der deutschen Politik in der Flüchtlingsfrage. Diese trägt eine Mitschuld. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hannes Soltau

Die Solidarität ist riesig, die Spendenbereitschaft hoch. Innerhalb von nur zwei Tagen wurden in Deutschland über eine Million Euro für die in Italien inhaftierte Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete gesammelt. Allein für den Spendenaufruf „Lasst uns die Seenotretter retten!“ der Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf kamen bisher 800 000 Euro zusammen. Sie sollen zur juristischen Verteidigung einer Frau eingesetzt werden, deren vermeintliches Verbrechen es war, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Zum Vergleich: Letztes Jahr hatte die Organisation Sea-Watch bis Oktober 1,8 Millionen Euro Spendengeld erhalten.

Die neue finanzielle Großzügigkeit entspringt einer überraschend breiten öffentlichen Aufmerksamkeit. In deutlichen Worten kritisierten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Außenminister Heiko Maas, Entwicklungsminister Gerd Müller und sogar Siemens-Chef Joe Kaeser die Geschehnisse auf Lampedusa. Endlich, möchte man meinen. Tönt es hierzulande doch bereits wieder aus der rechten Ecke: „Wer das Recht bricht, muss bestraft werden!“

Doch warum musste erst eine deutsche Aktivistin festgenommen werden, damit Politiker hierzulande ihre Empörung über die Zustände an den europäischen Außengrenzen zum Ausdruck bringen und auf Twitter stolz ihre Spendenschecks präsentieren? Vielleicht, weil es in den Medien bisher kein Gesicht zu jenem Grauen gibt, das sich vor der europäischen Haustür abspielt. Vielleicht, weil die Namen der allermeisten im Mittelmeer Ertrunkenen nicht bekannt sind. Vielleicht – oder sogar wahrscheinlich –, weil die Empathiefähigkeit noch immer vom Pass der Betroffenen abhängt. Die verhaftete Deutsche ist uns näher als die Tausenden von Toten aus Ländern, die so manch einer nur mit Mühe auf der Landkarte findet.

Ertrinken reicht heute nicht mehr für die Titelseiten

Es ist ein perfides Gedankenspiel: Wären die Geflüchteten, statt wochenlang auf Racketes Schiff auszuharren, unbemerkt ertrunken, hätte die 31-Jährige nicht festgenommen werden können. Doch Ertrinken allein reicht heute nicht mehr für die Titelseiten. Deutsche Politiker würden höchstens von einem „tragischen Unglück“ sprechen.

Die Empörung über den Fall Carola Rackete in deutschen Ministerien ist heuchlerisch. Schließlich sah die Politik hierzulande der humanitären Katastrophe im Mittelmeer lange genug zu. Auch weil sie einst mit dem Dublin-Abkommen die Verantwortung an die Außengrenzen der Europäischen Union verlagern konnte. Aus Berlin hieß es später oft genug, Italien habe sich an die Regeln zu halten, Flüchtlinge seien das Problem der dortigen Regierung. Das erzeugte einen wachsenden Unmut, begünstigte den Aufstieg des Rechtspopulisten Salvini zum Innenminister und dessen menschenverachtenden Umgang mit Geflüchteten.

Letztlich ist nicht die Inhaftierung von Rackete der Skandal, sondern der Umstand, dass sowohl Ankläger als auch Verteidiger die Kapitänin in die Lage gebracht haben, hinausfahren zu müssen. Das allerdings wäre eigentlich die Aufgabe einer Staatengemeinschaft, die ihrer „humanitären Verpflichtung“ (Maas) wirklich nachkommt.

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