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© dpa

Nach Kaczynskis Tod: Walesa: "Erneut ist Polens Elite ums Leben gekommen"

Über Smolensk verschwindet die Maschine des polnischen Staatschefs Lech Kaczynski von den Radarschirmen. Der Präsident kommt ums Leben und mit ihm hochrangige polnische Persönlichkeiten - auf dem Weg zu einer Gedenkfeier für die polnischen Offiziere, die vor 70 Jahren in Katyn von den Sowjets ermordet wurden. Ex-Präsident Lech Walesa spricht von einer "unvorstellbaren Tragödie".

Der vordere Teil des Flugzeugs hat sich mit der Nase fast senkrecht in den Waldboden gebohrt. Genau dort, wo einst die Tragflächen waren, ist der Rumpf gebrochen. Der hintere Teil, mit den polnischen Landesfarben rotweiß bemalt, liegt ein paar Meter weiter und raucht noch Stunden später. Trümmer, darunter auch ein Leitwerk und das bereits zur Landung präparierte Fahrwerk, lagen über mehrere hundert Meter über den Waldboden verstreut und waren durch den Aufprall teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Bilder des Grauens, die Russlands staatlicher Nachrichtenkanal Westi-24 immer wieder sendete. Sogar die Rettungsmannschaften des Ministeriums für Katastrophenschutz – hart gesottene Paramilitärs und daran gewöhnt, dem Tod bei Flutkatastrophen, Feuersbrünsten oder Terroranschlägen ins Auge zu sehen – reagierten geschockt. Befehle wurden fast im Flüsterton erteilt, als sie Zeltplanen über Leichenteile breiteten. Für die Polen wurde da zur traurigen Gewissheit, dass sie ihren Staatspräsidenten Lech Kaczynski sowie hochrangige Vertreter des Landes verloren hatten.

Die Delegation des 60-jährigen Präsidenten war auf dem Weg nach Katyn, wo sie wenige Tage nach der Gedenkfeier mit Polens Ministerpräsident Donald Tusk und Russlands Premier Wladimir Putin noch einmal an die Ermordung der 4000 polnischen Offiziere durch den NKWD erinnern wollte. Niemand hat den Flugzeugabsturz überlebt. Laut offizieller Passagierliste wurde Kaczynski von seiner Ehefrau Maria sowie 85 Personen an Bord begleitet, dazu die Besatzung. Doch gehen die Behörden von mehr Opfern aus. In der Unglücksmaschine seien insgesamt 132 Menschen gewesen, heißt es. Darunter die wichtigsten Mitarbeiter von Kaczynskis Präsidialkanzlei, wichtige Parteikader von „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), der national-konservativen, heutigen Oppositionspartei seines Zwillingsbruders Jaroslaw Kaczynski sowie fast die gesamte militärische Führung des Landes. Auch der letzte polnische Exilpräsident Ryszard Kaczorowski, Nationalbankpräsident Slawomir Skzrypek und der Chef des PiS-nahen Instituts des Nationalen Gedenkens, des polnischen Äquivalents der Birthlerbehörde, Janusz Kurtyka gehören zu den Absturzopfern.

„So ein Drama hat die heutige Welt noch nicht erlebt“, sagte Tusk. Der liberale Regierungschef, ein erbitterter politischer Gegenspieler der Kaczynski-Zwillinge, soll bei der Todesnachricht spontan in Tränen ausgebrochen sein. Seinen Landsleuten sicherte er zu, den des nun kopflosen Staates und seiner Regierung zu sichern.

Der frühere polnische Präsident und ehemalige Solidarnosc-Anführer Lech Walesa sprach von einer „unvorstellbaren Tragödie, einem unvorstellbaren Unglück“. „Vor 70 Jahren haben die Sowjets in Katyn die polnische Elite ermordet“, sagte Walesa der Nachrichtenagentur AFP. „Heute ist erneut die polnische Elite ums Leben gekommen, auf dem Weg dorthin, wo sie der getöteten Polen gedenken wollten.“

Wieder fühlen sich die Polen ihrer Elite beraubt. Ein Gefühl, das mit dem Wort Katyn untrennbar verbunden ist, jenem Waldstück, das unweit der jetzigen Unglücksstelle schon einmal zum Grab vieler Polen wurde. Nun muss das Land mit der niederschmetternden Symbolik klarkommen, dass neben Kaczynski auch Angehörige von Opfern des Massakers von Katyn zu den Toten zählen.

Hunderte Polen finden sich schon Stunden nach der Katastrophe in Warschau vor dem Präsidentenpalast ein, um Blumen, Kerzen, Grußbotschaften niederzulegen. Oder einfach nur dazustehen und zu schweigen. Im Schock ist Polen vereint. Auch Kaczynskis politische Gegner reihen sich ein, um einem Mann zu kondolieren, der zu den umstrittensten Politikern in Europa zählte wegen seiner unverholen nationalistischen Töne. Nach Innen führte er einen Kulturkampf. Nach Außen einen Kampf um die endgültige Anerkennung Polens. Ein klassischer Politiker war Lech Kaczynski nicht.

War es überhaupt einer, in der Erinnerung? In ihrer politischen Karriere traten Lech und sein nur 45 Minuten älterer Bruder gemeinsam auf. „Jacek und Placek“ – an die beiden denkt fast jeder in Polen zuerst, wenn er auf die kaum unterscheidbaren Kaczynski-Zwillinge angesprochen wird. 1962 spielten sie, 12-jährig, als Kinderstars die Hauptfiguren in dem polnischen Lausbubenklassiker „Von Zweien, die den Mond stahlen“. Da geht es um zwei Bengels, die keine Lust haben auf Schule und Arbeit und dann, als sie erfahren, dass der Mond aus reinem Silber sei, kurzerhand beschließen, den Mond zu klauen. Wieder und wieder verzweifelt die alleinerziehende Mutter an ihren Streichen – und flucht eines Tages, niemals werde etwas Gutes aus ihnen werden.

Dass sie nicht Recht behalten sollte, hat viel mit Jadwiga Kaczynska zu tun, der echten Mutter von Lech und Jaroslaw. Sie hatte als Sanitäterin der polnischen Untergrundarmee beim Warschauer Aufstand gekämpft und den Terror der deutschen Nazibesatzer erfahren. Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Deutschen, aber auch des blutigen, wenn auch aussichtslose Kampfes hat sie ihnen ebenso bewahrt wie der Argwohn, auch der Sowjetmacht hilflos ausgeliefert gewesen zu sein. Wie 1944, als Stalins Armee vom rechten Weichselufer aus nicht in den Kampf um Warschau eingriff. Aber auch wie nach dem Krieg, als die Westmächte Polen an Stalin auslieferten.

Diese doppelte Opferrolle und das Empfinden erlittenen Unrechts prägte Lech tief – auch während des Jurastudiums an der Universität Warschau, wo sich die Twins früh der antikommunistischen Opposition anschlossen. Ab 1981 halfen sie bei der Gründung und dem Aufbau der oppositionellen Gewerkschaft Solidarnosc mit; Lech kam von Dezember 1981 bis Oktober 1982 gemeinsam mit Gewerkschaftsführer Lech Walesa ins Gefängnis. Sein Bruder entging der Verhaftung, angeblich weil die Polizei von einem Fehler ausging und nicht glauben wollte, dass zwei Kaczynskis dasselbe Geburtsdatum hatten.

Es war in der Anfangszeit der Demokratisierung Polens, als es zum Bruch der Zwillinge mit Lech Walesa kam – ein Bruch, über den in Polen bis heute gerätselt wird. Waren sie gekränkt, dass sie keine Regierungsämter bekamen, sondern lediglich Senatoren wurden? War neben Walesa zu wenig Platz für das Doppelgespann? Oder stimmt die von ihnen selbst immer wieder vorgetragene Version, sie hätten sich einem angeblichen Kuschelkurs Walesas mit den Postkommunisten widersetzt? Es ist wohl eine Mischung aus allem, vor allem aber eine gehörige Portion Kränkung, die die Brüder von da an antrieb und zum Intimfeind Walesas und aller anderen liberalen Solidarnosc-Funktionäre machte.

Kränkung und Opferrolle – meisterhaft inszenierten Lech und vor allem sein Bruder Jaroslaw fortan aus ihrer persönlichen Erfahrung ein politisches Projekt, in dem sich auch die vielen Wendeverlierer wiederfinden konnten. Todesstrafe, Abtreibungsverbot, Parolen gegen Deutsche und Russen – schnell wurde aus der Kaczynski-Partei PiS eine ernstzunehmende Kraft, die das Land moralisch erneuern und den Traum einer national-katholischen Wiedergeburt Polens in der so genannten „Vierten Republik“ verwirklichen wollte.

Offen deutsch-feindlich gebärdete sich neben den Kaczynski-Zwillingen allerdings nur eine Minderheit der Polen. Etwas besser kam am Anfang seiner Amtszeit Lech Kaczynskis Jagd auf kommunistische Agenten an, als diese jedoch immer weitere Kreise auch unter gestandenen Anti-Kommunisten zog, wandte sich auch hier eine Mehrheit gegen den Präsidentenpalast. Die klare Niederlage der bisherigen Regierungspartei PiS 2007 waren der beste Ausdruck dafür. Das Volk war die kleinlichen Abrechnungen Lech und Jaroslaw Kaczynskis leid.

In einem Europa der immer durchlässiger werdenden Grenzen wirkte diese Haltung unbequem und fremd. Es war wohl auch Kazcynskis politischer Eigensinn, der ihn den Katyn-Feierlichkeiten zunächst fern bleiben und dann einen gesonderten Termin zum Jahrestags des Massakers wählen ließ. Sein Verhältnis zu Putin und Tusk, der nach den Wahlen 2007 seinen Zwillingsbruder Jaroslaw als Regierungschef beerbte, galt als ausgesprochen kompliziert.

Was sich dann am gestrigen Samstag in Smolensk ereignet, ähnelt auch einem Geisterflug. Nachdem die Maschine des polnischen Staatschefs Weißrussland überflogen hat, verschwindet sie gegen 8:50 Uhr deutscher Zeit von den Radarschirmen und krachte in ein Waldstück, nur 500 Meter vom Beginn der Start- und Landebahn des Flughafens Sewernij in der Nähe des Städtchens Petschorsk entfernt. Es herrscht dichter Nebel. Drei Landeanflüge hat die Crew daher bereits abbrechen müssen. Mehr als zwei, so ein russischer Pilot bei Radio „Echo Moskwy“, heiße Gott versuchen. Die Besatzung hätte auf einen anderen Flughafen ausweichen müssen. Ihr soll das auch von den Fluglotsen nahegelegt worden sein. Die Piloten der Präsidentenmaschine versuchten es indes ein viertes Mal. Dabei – das Fahrwerk war schon ausgeklappt – streifte eine der Tragflächen die Wipfel der Bäume. Wegen der geringen Höhe konnte der Pilot die absackende Maschine nicht mehr nach oben reißen.

Russische Nachrichtenagenturen berichteten, dass die Fluglotsen dem Piloten der Unglücksmaschine wegen dichten Nebels geraten hätten, nicht in Smolensk, sondern in der weißrussischen Hauptstadt Minsk oder in Moskau zu landen. Der Pilot habe dies jedoch ignoriert. Kremlchef Dmitri Medwedew setzte eine Untersuchungskommission unter Leitung von Ministerpräsident Wladimir Putin ein. Nach einer Besichtigung des Unglücksorts kündigte Putin eine rasche Aufklärung des Absturzes an.

Die inoffizielle polnische Version ist eine andere: Hier tragen die Russen zumindest eine Mitschuld, denn der Militärflughafen von Smolensk, so heißt es, sei nicht für Nebellandungen ausgerüstet gewesen. Bilder im Staatsfernsehen unterstreichen dunkle Ahnungen. Auf ihnen ist zu sehen, wie russische Sicherheitskräfte das Gelände abriegeln und polnische Journalisten gängeln. Notizblöcke und elektronische Fotos seien konfisziert worden, heißt es. „Ich bin überzeugt, der FSB steckt dahinter“, sagt eine tschtschenische Flüchtlingsfrau auf dem Basar im Warschauer Stadtteil Praga. „Nun geht es auch uns an den Kragen“, klagt sie.

Die Frau, die ihren Namen nicht nennen will, hat Lech Kaczynski immer als großen Wohltäter gegenüber der tschetschenischen Flüchtlingsgemeinde in Polen wahrgenommen. Und sie sagt: „Kaczynski traute den Russen nie über den Weg – mit Recht.“

„Lasst uns keine Schuldigen suchen, sondern beten“, forderte Warschaus Stadtpräsidentin Hanna Gronkiewicz-Walz.

Das Dienstflugzeug Kaczynskis, eine Tupolew-154, gilt als technisch veraltetes Modell. Von den Sowjets 1968 als Gegenstück zur Boing 727 konstruiert, wurde sie bis 2006 gebaut, ist heute vom Himmel aber weitgehend verschwunden. Neben Polen setzen nur Bulgarien, Aserbaidschan und die Slowakei diesen Typ als Regierungsmaschine ein. Etwa 60 Abstürze hat es bereits gegeben. 1997 kollidierte eine der beiden Bundeswehrmaschinen aus Restbeständen DDR-Volksarmee über dem Atlantik mit einer amerikanischen Militärmaschine. Und erst Mitte Januar war eine iranische TU-154 in Flammen aufgegangen, nachdem die Reifen beim Aufsetzen auf der Piste geplatzt waren.

Auch das jetzige Unglück wäre vermeidbar gewesen, wenn Kaczynski ein modernes Flugzeug mit Thermo-Sensoren benutzt hätte. Doch können Passagierflugzeuge neuerer Bauart in Smolensk nicht landen. Die Rollbahn ist viel zu kurz. Ein Übel, an dem auch andere Flughäfen in der russischen Provinz kranken. Vor allem deshalb verlängert die Behörde für zivile Luftfahrt für die TU-154 immer wieder die Lizenzen.

Erst vor ein paar Wochen war Kaczynskis Maschine vom Hersteller in Samara an der Wolga generalüberholt worden. Polen, so ein Sprecher der russischen Behörde für zivile Luftfahrt, habe bei der Übergabe keine Beanstandungen gehabt.

Und auch Wladimir Putin sah am Mittwoch keinen Grund, für die knapp 400 Kilometer lange Strecke von Moskau nach Smolensk etwas anderes als eine TU-154 zu benutzen, um am 70. Jahrestag des Katyn-Massakers teilzunehmen. Nun wird er die Kommission zur Untersuchung des Flugzeugabsturzes leiten. Die Hiobsbotschaft vom Tod eines Teils der polnischen Staatsführung nahm er mit unbewegtem, aber kalkweißem Gesicht entgegen und übermittelte den per Zug angereisten polnischen Teilnehmern der Gedenkveranstaltung sein aufrichtiges Beileid.

Der liberale Parlamentspräsident Bronislaw Komorowski übernahm noch am Nachmittag, wie von der polnischen Verfassung vorgesehen, interimistisch das Präsidentenamt. Innerhalb von zwei Wochen muss er einen Wahltermin für das Präsidentenamt benennen. Die Wahl muss spätestens in 60 Tagen stattfinden. Bisher galt der liberale Präsidentschaftskandidat Komorowski für die regulär im Herbst stattfindenden Präsidentschaftswahlen als Favorit.

Lech Kaczynski erwog, noch einmal anzutreten und um sein politisches Erbe zu kämpfen. Trotz schlechter Umfragewerte. Chancenlos war auch der linke Präsidentschaftskandidat Jerzy Szmajdzinski. Er saß mit dem Präsidenten in der Maschine.

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