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Nach Krawallen in England: Wie Tottenham zur Normalität zurückfindet

Die Straße ist neu asphaltiert, und Jugendliche rufen sich zu: „Habe ich dich nicht im Fernsehen gesehen?“ Währenddessen hält in Tottenham der Alltag Einzug.

Tottenhams High Road ist neu asphaltiert. Der Geruch von verbrannten Holzbalken liegt nicht mehr schwer in der Luft, dafür der von frischem Asphalt. Khalid vom Aufsichtsamt verteilt Flugzettel an Geschäftsleute. Darauf die Botschaft: Bis Ende August ist die Müllabfuhr umsonst. „So einen Aufruhr werden wir hier nicht noch einmal sehen“, behauptet er. Die Gemeinde habe Millionen in die Verschönerung von Tottenham investiert. „Jetzt bedauern die Leute, was sie angerichtet haben.“ Wie seine Arbeitgeber und das ganze Land hofft er, dass der Albtraum der Gewalt ein böser Ausrutscher war und die Krawallmacher, die derzeit massenhaft in Schnellverfahren vor britischen Gerichten abgeurteilt werden, angesichts harter Strafen ihre Lektion lernen.

Aber es ist vielleicht nur eine Hoffnung. Während die Gemeindeverwaltung mit einer gemeinschaftlichen Aufräumaktion die letzten Trümmer in der Straße wegfegt, in der die Krawalle vor zehn Tagen zuerst ausgebrochen waren, stehen Teenager daneben, kichern. „Das war der beste Tag meines Lebens“, hatte ein Mädchen im Fernsehen gesagt, als das Adrenalin des Plünderns noch durch ihre Adern pulsierte. „Die Regierung gibt uns nichts. Warum sollen wir es nicht nehmen, wenn es umsonst ist?“, sagte sie. „Wir haben der Polizei gezeigt, dass wir tun können, was wir wollen.“

Es war das Credo jener vier Tage. Dann haben die Verhaftungswellen begonnen, und die Teenager reden nicht mehr mit Fremden. Aber ein junger Schwarzer ruft einem Mädchen hinterher: „Habe ich dich nicht im Fernsehen gesehen?“ „Du warst doch dabei“, ruft sie zurück. „Ich? Ich war bei der Arbeit“, lacht er.

Tucker glaubt sicher, dass es wieder passieren wird. „Nichts auf dieser Welt kann dieses Problem lösen“, sagt er, der Schwarze, der höchsten 25 ist und im strahlend weißen T-Shirt an der Ecke steht, wo die restlichen Trümmer des Juweliers „Paradise Gems“ aufgeladen werden. Tucker ist hier aufgewachsen. Er wohne in Muswell Hill, ein paar Meilen weiter westlich und arbeite im Baugeschäft, sagt er, aber mit seiner teuren Sportkleidung sieht er aus wie ein frisch eingekleideter Edelrapper. „Wickedness“, sagt er, Verruchtheit. „Die Regierung kann Millionen ausgeben, und es wird nichts nützen, denn so steht es in der Bibel geschrieben. Lies den Propheten Daniel.“

Kirchen gibt es in der Tottenham High Road fast so viele wie Friseure. Mit der Schere kämpfen die einen, die anderen mit Worten um die Köpfe der Menschen. „Xtreme Hair Designs“, „O’Boyz“, „Extreme Attractions“ oder „Gentleman Hairdresser“ heißen die Frisiersalons. Das Geschäft des 89-jährigen Aaron Biber wurde geplündert. 35 000 Pfund sammelten Londoner für den Friseur, damit er seinen Laden wieder einrichten kann.

In Sachen Seelenrettung hat die Kraft- Lob-und-Erlösung-Kirche direkt gegenüber der Polizeiwache, wo alles begann, ein altes Theater bezogen. Es gibt in der High Road eine Königreich-Halle der Zeugen Jehovas, mehrere Methodistenkirchen, eine apostolische Christuskirche, eine „Kirche der Vorsehung“, eine Vereinigte Kreuzkirche und die schönste Kirche von allen: „Freedoms Ark“ von Reverend Nims Obunge durfte in die alte Town Hall einziehen.

Als „Community Leader“ ist Obunge gut vernetzt. In diesem Tottenham, dem multiethnischsten Bezirk Europas, wo rechtgläubige Muslime, alte Juden wie Aaron Biber, fleißige polnische Einwanderer oder Somalier versuchen, Fuß zu fassen und weiterzukommen, ist er für die Schwarzen zuständig. Er organisiert gerne Mahnwachen. Auch die für den von der Polizei erschossenen Mark Duggan, die am Anfang der Krawalle stand. „Gerechtigkeit für die Familie“, fordert er. Nun ist er erschöpft. Er könne nicht mehr mit Journalisten sprechen, sagt seine Sekretärin durch die Sprechanlage.

Auf seiner Homepage kann man dafür eine Aufführung seines Jugendclubs ansehen. Jugendliche sind zu sehen, wie sie mit ihren Problemen beschriftete Backsteine über die Bühne tragen. Die Probleme sind Schulden, Geld, Schwangerschaft, Abtreibung. Dazu singt ein Sänger mit wachsender Ekstase: „Jesus klopft an die Tür.“

Kritische Soziologen glauben, dass sich seit den Rassenkrawallen der Achtzigerjahre das Opfer-Bewusstsein der Schwarzen in eine „Beschwerdekultur“ gewandelt habe, die durch die Lebensumstände nicht mehr gedeckt ist. „Die rassistische Demütigung vor 30, 40 Jahren wurde liebevoll gepflegt, um den Motor für eine Wut abzugeben, die eigentlich nur noch eine adoleszente Pose ist“, schrieb David Goodhart im „Prospect“-Magazin. Sind die vielen Kirchen Teil dieser Parallelwelt des Opfergefühls, in denen sich Ausgeschlossenheit und Ressentiment verfestigen?

Der 89-jährige Aaron Biber jedenfalls wird diese Woche wieder von sechs Uhr morgens bis 12 in seinem Gentleman’s Hairdresser stehen. „Wenn du nicht arbeitest, kannst du nicht essen“, hätten ihm seine Eltern beigebracht. Er weiß auch, was er von den jungen Plünderern hält. „Wahnsinnige. Sie wollen nur herumrennen und keine Verantwortung haben.“

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