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Protest auf dem Tahrirplatz in Kairo gegen die Parlamentsauflösung.

© AFP

Nach Parlamentsauflösung in Ägypten: Chaos und Verwirrung am Nil

Seit der Auflösung des Parlaments ist die Lage in Ägypten wieder völlig unklar. Die Legislative fällt zurück an die verhassten Generäle und Neuwahlen könnten sich hinziehen. Nicht wenige sehen eine Verschwörung des Militärs hinter dem Urteil der Verfassungsrichter.

Die Zeitungen überschlugen sich mit Schlagzeilen. „Eine Bombe – Shafiq bleibt und das Parlament ist ausradiert“, titelte die Zeitung „Wafd“. „Zurück auf null“, deklamierte „Al Shorouk“. Und aus Washington kam eine unverhohlene Warnung an die Adresse der ägyptischen Militärs. „Es kann keinen Weg zurück geben beim Übergang zur Demokratie, den das Volk verlangt“, erklärte Außenministerin Hillary Clinton. „Wir erwarten eine Übertragung der gesamten Macht an eine demokratisch geführte Regierung.“ Die Proteste der Bevölkerung im vergangenen Jahr hätten klargemacht, die Menschen „wollen einen Präsidenten, ein Parlament und eine Verfassungsordnung, die ihrem Willen entspricht und ihren Wünschen nach politischen und wirtschaftlichen Reformen nachkommt“.

Was in den Worten der US-Außenministerin wohlgeordnet und strukturiert klingt, hat mit der politischen Realität am Nil jedoch nichts mehr zu tun. Denn seit dem Urteil des Verfassungsgerichtes am Donnerstag dominieren Chaos und Verwirrung.

Die Entscheidung der Richter, das Wahlgesetz für verfassungswidrig zu erklären sowie das Parlament mit beiden Kammern aufzulösen, macht den bisher wichtigsten Baustein eines demokratischen Neubeginns zunichte. Erst im Januar hatte der Oberste Militärrat, der seit dem Sturz von Hosni Mubarak die Macht im Land ausübt, die Gesetzgebungskompetenz an das neu gewählte Plenum abgetreten, in dem Muslimbrüder und Salafisten eine erdrückende 70-Prozent-Mehrheit besitzen. Nun fällt die Legislative wieder zurück an die Generäle. In welchem Zeitraum Neuwahlen abgehalten werden müssen, dafür gibt es keine Vorschriften. Ende Juli beginnt der vierwöchige Fastenmonat Ramadan, dann ruht das politische Leben. Realistisch wäre ein Termin frühestens im Oktober. Und wenn die Neuwahlen erneut in drei Etappen für das Unterhaus und zwei Etappen für das Oberhaus aufgeteilt werden, könnte die nächste Volksvertretung frühestens im Januar 2013 ihre Arbeit aufnehmen.

Mit der Auflösung des Parlaments ist gleichzeitig auch die 100-köpfige verfassunggebende Versammlung annulliert. Ihre Zusammensetzung muss durch das Parlament bestimmt werden, dessen Beschlüsse alle für nichtig erklärt sind. Es bleibt aber die Möglichkeit, dass der Oberste Militärrat die Zusammensetzung nun per Dekret festlegt. Dann würde in der zweiten Jahreshälfte zunächst die neue Verfassung ausgearbeitet und anschließend erst das neue Parlament gewählt.

Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des bisherigen ägyptischen Wahlgesetzes bestanden von Anfang an und wurden breit diskutiert. Nach Auffassung der Richter benachteiligt das im Dezember und Januar praktizierte Recht individuelle Kandidaten, die sich nicht auf eine Parteiliste stützen können. Nach dem ursprünglichen Gesetz sollte ein Drittel der 498 Sitze, das sind 166 Mandate, für Einzelpersönlichkeiten ohne Parteibindung reserviert sein. Zwei Drittel der Sitze, also 332 Mandate, sollten Parteilisten vorbehalten bleiben. Nach wochenlangem Hin und Her jedoch verständigten sich die großen Parteien und der herrschende Militärrat dann darauf, dass Parteivertreter auch für die unabhängigen Mandate kandidieren dürfen. Durch diese Änderung wurden nach Auffassung der Verfassungsrichter Einzelkandidaten ohne Parteibindung unzulässig benachteiligt. Sie erhielten plötzlich prominente Repräsentanten als Gegner, die obendrein noch über ihre Listen Mandate einfahren konnten. So kamen von den 235 Sitzen der Fraktion der Muslimbrüder 135 Mandate über den Listen-Pool, die übrigen 100 Mandate aber über den Pool für Einzelpersönlichkeiten, für den die islamistischen Politiker nach Ansicht der Richter gar nicht hätten antreten dürfen.

Die Auswirkungen eines revidierten Wahlrechts werden also vor allem die Muslimbrüder und Salafisten treffen. Bei strikt getrennten Mandate-Pools können die islamistischen Parteien künftig zusammen nicht mehr über 50 Prozent hinauskommen. Eine Zweidrittelmehrheit wie bisher ist praktisch ausgeschlossen.

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