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"Aufwachen: Wählen gehen": Die Kampagne der Stiftung SPI und des Landes Brandenburg sollte Jugendliche Erstwähler zum Abgeben ihrer Stimme motivieren.

© dpa

Nach Wahlen in Sachsen und Brandenburg: Was, wenn das Nicht-Wählen chronisch wird?

Die Wahlbeteiligung in Sachsen und Brandenburg war schwach. Und wenn das Nicht-Wählen chronisch wird? Dann geht jede Demokratie vor die Hunde. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Am vergangenen Donnerstag haben 85 Prozent der Schotten von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Sie wussten, dass es um etwas Entscheidendes geht: Wird Schottland unabhängig, oder bleibt es ein Teil Großbritanniens? Am 19. November 1972 haben 91,1 Prozent der Bundesbürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Sie wussten, dass es um etwas Entscheidendes geht: Bleibt der Sozialdemokrat Willy Brandt Bundeskanzler, oder wird er durch den Christdemokraten Rainer Barzel abgelöst?

An den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg haben sich in diesem Jahr weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten beteiligt. Ging es dort um nichts? In Thüringen, wo immerhin etwas mehr als 50 Prozent wählten, war das Ergebnis so knapp, dass die beiden denkbaren Koalitionen nur mit einer Stimme Mehrheit regieren werden – und da stand immerhin zur Debatte, ob erstmals ein Politiker der Linken Ministerpräsident wird. Dass dies eine nichtige Frage ist, wird ja wohl kaum jemand ernsthaft behaupten.

Nicht-Wählen kann sich über Generationen vererben

Wer wählt, will entweder etwas verändern oder etwas bewahren. Wer weder auf das eine noch auf das andere setzt oder hofft, wer also entweder resigniert hat oder wen das alles nicht interessiert, der wählt nicht. Nun gibt es keinen Wahlzwang, und deshalb hat jeder das Recht, zu wählen oder es zu lassen. Leider zeigt sich aber, dass vor allem jene nicht mehr wählen, die sich abgehängt fühlen. Denen alles egal ist. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen Nicht-Wählen eine Haltung des Protests sein kann. Viele, die diesmal der AfD ihre Stimme gaben, haben die Wahl bewusst boykottiert, weil sie ihre Interessen bei allen etablierten Parteien entweder verraten oder noch nie berücksichtigt sahen. Da ist Nicht-Wählen irgendwie eine aktive Haltung. Die meisten Wahlenthaltungen gibt es aber dort, wo das Bildungsniveau niedriger und die Arbeitslosigkeit höher ist.
Das ist alarmierend, denn diese Form des Nicht-Wählens kann chronisch werden – und es kann sich von Generation zu Generation vererben. Wenn in einem Hochhaus kaum jemand wählen geht, hat keiner ein dummes Gefühl, der zu Hause bleibt. Wer aber vom Balkon sieht, dass Müllers, Meiers, Schulzes Richtung Wahllokal unterwegs sind, der kommt vielleicht ins Grübeln – und geht auch. Besonders schlimm wird es, wenn die Eltern schon Nichtwähler waren oder sind. Das ist wie mit dem Lesen oder einer vernünftigen Ernährung. Wer es zu Hause nicht gelernt hat, tut sich später schwer.

In Schulen muss darüber geredet werden, was den Kern der Demokratie ausmacht

Kita und Schule können helfen und Versäumnisse heilen, wenn es um Bücher und das Essen geht. Vielleicht allerdings müssen wir dazu kommen, in den Schulen mehr darüber zu reden, dass jede Demokratie vor die Hunde geht, wenn immer mehr Menschen sich nicht an ihr beteiligen. Das Gerede von der angeblichen Alternativlosigkeit bestimmter politischer Haltungen hat zur Verdrossenheit sicher beigetragen. Es gibt immer mindestens zwei Optionen, personell und in der Sache.

Was würde wohl geschehen, wenn sich die Schotten mehrheitlich zur Loslösung von Großbritannien entschieden hätten? Und wie wäre es mit der Bundesrepublik, mit Deutschland weiter gegangen, wenn am 19. November 1972, als es ja nicht nur um den Kanzler, sondern auch um die gesamte Ostpolitik ging, Rainer Barzel und nicht Brandt gesiegt hätte?

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