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Politik: Nährt die Schlange

Von Rüdiger Schaper

Die gefallene Berliner Mauer. Christos verhüllter Reichstag. Die MoMASchau. Das ist der Stoff, aus dem die Berliner Träume sind. Träume von der Weltstadt.

Seit der Wiedervereinigung geistert die Idee der Kulturmetropole Berlin in den Köpfen herum. Denn diese Stadt ist groß im Anspruchsdenken, aber auch sehr versiert darin, ihre Möglichkeiten zu zerreden und mit einem anderswo kaum vorstellbaren Masochismus zu verspielen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat Berlin gelehrt, in Schizophrenien zu denken. Und nun soll mit einem Mal alles anders sein?

Selbst kühnste Optimisten haben einen solchen Ansturm nicht für möglich gehalten: In der Neuen Nationalgalerie wird heute der millionste MoMA-Besucher erwartet. Und für den Endspurt bis zum 19. September werden noch einmal die Öffnungszeiten ausgedehnt, bis tief in die Nacht. Viele Menschen mögen andere Sorgen haben. Aber es zeigt sich hier, exemplarisch, eine neue Lebensqualität der Hauptstadt.

Nie gab es in Berlin – und in Deutschland – eine erfolgreichere Einzelausstellung. Noch nie hat hier zu Lande privates Kulturengagement an einem Ort so viel bewegt wie der geniale Deal des Vereins der Freunde der Nationalgalerie mit den New Yorker Museumsbossen. Lange auch kamen nicht so viele Touristen nach Berlin wie in diesem Sommer. Und wenn es tatsächlich einen neuen Berlin-Boom gibt, dann verdankt er sich der überreichen Kultur in dieser Stadt – die ansonsten pleite ist.

Vieles trägt bei zum MoMA-Hype, der täglich noch zuzunehmen scheint. Hier spielt der Mythos New York ebenso eine Rolle wie die Sehnsucht nach dem anderen, dem zivilen Amerika – in Zeiten von Krieg, Terror und transatlantischer Verwerfung. Es ist die Sehnsucht nach dem Amerika, das dem guten alten Europa künstlerisch und kunsthistorisch nahe steht. Auch Helmut Newton ist nach Berlin zurückgekommen, wie vor einigen Jahren der Sammler Heinz Berggruen. Sie waren Emigranten, vor den Nationalsozialisten aus Deutschland geflohen. Die ersten Stücke der Flick-Sammlung werden dieser Tage in Berlin ausgepackt: die andere Seite der deutschen Geschichte. So viel kommt zusammen in diesem unglaublichen MoMA-Sommer. Die MoMA-Manie wirkt wie ein mächtiger Anschub. Sie ist Ursache und Wirkung zugleich. Man kann sich jetzt vor internationalen Festivals kaum retten. Der „Tanz im August“ erlebt einen überraschenden Besuchererfolg, das Publikum strömt zu den seltsamsten Veranstaltungen in der ebenso hässlichen wie attraktiven Ruine des „Volkspalasts“.

Liest man dagegen das jüngst veröffentlichte Strategiepapier des Berliner Kultursenators (und die Erwiderungen seiner Kritiker), lässt sich nur sagen: Die Lage ist viel besser, als es die ewige Berliner Kulturdebatte mit ihren Nörglern und Neidern suggerieren möchte.

Immerhin: Die Kulturverwaltung konstatiert, wenn auch in trockenem Ton, dass Berlin nur durch seine Kultur Ressourcen und Perspektiven entwickeln kann. Damit ist man wieder in der legendären MoMA-Schlange angekommen. Schlange verheißt meist nichts Gutes. Autobahnstau! Sündenfall! Einkaufen im Sozialismus! Der trojanische Priester Laokoon, der zusammen mit seinen Söhnen von gottgesandten Schlangen erwürgt wurde! In Berlin aber, das weder Troja noch das Paradies auf Erden ist, lebt man von diesen Schlangen. Man muss sie nähren: die Kultur.

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