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Gaza

© dpa

Nahost: „Gaza war wie Somalia“

Gewalt und kein Ende: Einige Palästinenser machen die Sicherheitskräfte der Fatah von Präsident Abbas für die militärische Eskalation verantwortlich.

Als Maher Ajur mit seinen Eltern das Haus der Familie in Gaza-Stadt betritt, sehen sie als Erstes im Vorhof den ausgebrannten Golf stehen. Maher, Mediziner an der Islamischen Universität, hat sich das Auto vor kurzem gekauft. Die Tischlerwerkstatt im Erdgeschoss mit Geräten im Wert von 120 000 Dollar ist zerstört. Maher ist Hamas-Mitglied. Sein Bruder Masen war ein Führer der vom früheren Hamas-Innenminister Siam aufgestellten Sicherheitstruppe „Tansfisija“. „Das ist das Werk der Bakr-Familie, die gegenüber wohnt“, sagt Maher. Der Bakr-Clan gehöre zur Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Viele Mitglieder der Familie, sagt Maher, würden in der Präsidialgarde der Autonomiebehörde oder in der paramilitärischen Einheit arbeiten, die auf die Verfolgung der Islamisten spezialisiert war.

Am 11. Juni begannen die Kämpfe, an deren Ende die Hamas die militärische Macht im Gazastreifen übernehmen sollte. An diesem Tag erschossen Mitglieder der Bakr-Familie den 37-jährigen Masen vor der eigenen Haustür, erzählt Maher. Er selbst wurde erst in das Haus des Clans verschleppt und später in das Lager von Präsident Abbas. Dort habe man ihm zwei Rippen gebrochen. Hamas-Leute hätten später mehrere Mitglieder der Bakr-Familie getötet. „Begonnen hat alles vor zehn Monaten, damals beschossen Bakr-Leute meinen Vater auf der Straße“, erzählt er. Politisch unbeteiligte Anwohner berichten ebenfalls von Terrorisierung durch die Familie mit dem großen Einfluss im palästinensischen Sicherheitsapparat. „Sie haben die Straßen versperrt und uns nicht durchgelassen“, sagt ein Taxifahrer. „Man musste immer Angst haben, dass sie einem die Waffe an den Kopf setzen und das Auto wegnehmen.“

Im April 2006 hatte die Hamas die Regierung in den Palästinensergebieten übernommen. Seitdem sollen willkürliche Verfolgung, Entführung und Folter durch die von der Fatah beherrschten Sicherheitsdienste der Autonomiebehörde extrem zugenommen haben, was auch internationale Menschenrechtsorganisationen anprangerten. Zudem haben mächtige Familienclans, oft mit den Sicherheitsdiensten verbandelt, Ladenbesitzer erpresst, Menschen auf offener Straße erschossen, Häuser von Rivalen niedergebrannt. Strafverfolgung gab es nicht.

Zu den berüchtigsten Clans gehört der von Momtas Doghmusch, der mit dem Ex-Sicherheitschef Mohamed Dahlan kooperierte und heute über eine Privatarmee von einigen hundert Mann verfügen soll. Diese hat vor über drei Monaten den BBC-Journalisten Alan Johnston entführt. Spätestens seitdem fuhren nur noch wenige ausländische Journalisten in den Gazastreifen, so dass über diese Probleme kaum berichtet wurde.

Fatah-Veteran Freisch Abu Meidan, der 1994 das Justizministerium der Autonomiebehörde aufgebaut hat und bis 2002 Justizminister war, zeichnet ein düsteres Bild. „Im vergangenen Jahr sind so viele Menschen in Gaza Opfer der Kriminalität geworden wie in den vergangenen 50 Jahren zusammen“, sagt Abu Meidan. Er habe sich kaum mit seinem Jeep auf die Straße getraut, weil er fürchten musste, dass ihn jemand aus dem Auto zerrt und den Wagen stiehlt. „Die meisten Kommandeure unserer Sicherheitskräfte in Gaza sind große Diebe, die sich bestechen lassen.“

Bassem Naim, früher Sportminister in der von Präsident Abbas abgesetzten Einheitsregierung, macht diese Entwicklung für das militärische Eingreifen der Hamas verantwortlich. „Wir hatten keine Wahl. Seit unserem Wahlsieg haben die Fatah- Kräfte verhindert, dass wir regieren. Sie haben Imame verhaftet, die Bevölkerung eingeschüchtert, zuletzt am Montag vergangener Woche haben sie das Büro des Premiers in Gaza beschossen.“ Immer wieder hätte man Abbas und arabische Vermittler auf das Problem aufmerksam gemacht, geschehen sei nichts. Naim, der in Erlangen Medizin studierte, will nicht von einem „Coup“ sprechen und versichert, Hamas wolle keinen eigenen Staat in Gaza gründen. Der ruhige und moderat wirkende Mann ist offensichtlich nicht glücklich über die Ereignisse. Vielleicht sehen andere Hamas- Führer, besonders des militärischen Flügels, das anders.

Der Chef des palästinensischen Zentrums für Menschenrechte in Gaza, Radschi Sorani, ist kein Hamas-Sympathisant, er war Kommunist und Mitglied der Volksfront zur Befreiung Palästinas. Der gelernte Jurist verurteilt die gewaltsame Übernahme der Sicherheitsorgane der Autonomiebehörde durch die Kassam-Brigaden der Hamas. Aber er macht die besiegten Fatah-Einheiten für das „organisierte Chaos“ verantwortlich, das Gaza in den vergangenen 15 Monaten geprägt habe. „Sie haben sich wie Gutsherren aufgespielt, die niemandem Rechenschaft schulden“, sagt er. Gaza sei einer der unsichersten Orte der Welt geworden, auf gleicher Stufe wie Somalia oder Afghanistan. Die UN hätten ihr Personal abgebaut, die Medien hätten Gaza seit sechs Monaten gemieden und selbst die Solidaritätsgruppen seien ausgeblieben. „Wir hatten hier immer zwei bis drei Freiwillige aus dem Westen, die bei uns mitarbeiteten. Vor Monaten habe ich die letzten beiden nach Hause geschickt, weil es auf den Straßen zu gefährlich wurde.“ Sorani glaubt, dass die Gegner der Hamas-Regierung beweisen wollten, dass diese nicht regieren kann, in der Hoffnung, die Menschen würden sich von ihr abwenden. Er entschuldigt sich, dass dies wie Hamas-Propaganda klingen mag.

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