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Politik: Nahost-Krise: Die Ohnmacht der Gefühle

Die Bilder gleichen sich. Hier die serbischen Oppositionellen, die in ihrer Wut über den Diktator Milosevic ein Regime hinwegfegen.

Die Bilder gleichen sich. Hier die serbischen Oppositionellen, die in ihrer Wut über den Diktator Milosevic ein Regime hinwegfegen. Dort die Palästinenser, die am "Tag des Zorns" ihre Empörung über die israelische Besetzung und die über 70 Toten der letzten Woche zum Ausdruck bringen. Dennoch könnte beides unterschiedlicher nicht sein. Während die Opposition in Serbien ein klares Projekt mit dem Namen "Demokratie" verfolgt, geben sich die palästinensischen Jugendlichen einem traurigen, zerstörerischen Rausch hin.

Die Strategie der "Tansim"-Kämpfer hat einen scheinbaren Erfolg: Die Israelis weichen zurück, ziehen Panzer und schweres Geschütz aus den Konfliktzonen ab und haben sogar den Palästinensern beim gestrigen Freitagsgebet wieder die alleinige Zuständigkeit auf dem Tempelberg übertragen. Ein Sieg also? Nein. Die palästinensische Jugend hat den Israelis nur abermals vor Augen geführt, dass die Besetzung weiter anhält. Die meisten hielten das Problem schon für so gut wie gelöst. Schließlich hatte sich Israel nach dem Osloer Friedensabkommen aus den stark bevölkerten Zentren zurückgezogen. Dass die Palästinenser jedoch bei jeder Fahrt von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt weiter der Besatzungsrealität begegnen, davor verschloss Israel die Augen.

Und noch eine israelische Lebenslüge wurde zerschlagen. Zum ersten Mal beteiligten sich jetzt die israelischen Araber an den Ausschreitungen. Die Israelis haben viel zu lange ignoriert, dass sie selbst nach 50 Jahren die unter ihnen lebenden Araber als Bürger zweiter Klasse behandeln. Das hat die israelischen Araber nun an die Seite der Aufständischen getrieben.

Doch auch die Palästinenser haben in den jüngsten Auseinandersetzungen politisches Terrain verloren. Wie schon früher, als sein Kontrahent noch Bibi Netanjahu hieß, muss sich Arafat vorwerfen lassen, er verliere immer im richtigen Moment und strategisch bedacht die Kontrolle über die Extremisten. Zu gerne möchte man beispielsweise wissen, wie es dazu kam, dass das palästinensische Radio am Tag vor dem Freitagsgebet vor einer Woche zur Verteidigung des Tempelbergs aufrief und so die Stimmung weiter aufheizte. Noch weniger glaubhaft ist es, dass Arafat keinerlei Einfluss haben soll auf das, was in den Freitagspredigten an politischen Parolen unters Volk gebracht wird. Und der jetzt von Arafats Fatah ausgerufene "Tag des Zorns" - was ist er mehr als eine Aufforderung an die fanatisierten Jugendlichen, sich noch einmal richtig auszutoben?

Vor so viel heiligem Zorn droht das eigentliche Projekt der Palästinenser - der eigene Staat - aus dem Blick zu geraten. Die Steine auf die unterhalb des Tempelbergs, an der Klagemauer, betenden Juden zeigten zudem, dass die Israelis den Palästinensern an solch einer neuralgischen Stelle eben nicht die Souveränität überlassen können. Genauso wenig hinnehmbar ist die Auffassung, dass der Tempelberg allein den Muslimen zustehe. Monopol-Ansprüche sind unangebracht, egal von welcher Seite sie vorgebracht werden: Der Tempelberg muss für Anhänger aller Religionen offen bleiben - auch für Juden. Bald werden die Palästinenser aus der Berauschtheit des "Tags des Zorns" erwachen. Die Probleme werden dann immer noch dieselben sein.

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