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Neonazi-Morde: Der Verdacht des Kommissars

Polizeihauptkommissar Klaus Mähler war auf der richtigen Spur. Er glaubte, dass die Mordserie, die er und die Soko Bosporus aufklären sollten, auf das Konto von Neonazis gehen könnten. Aber man ließ ihn im Stich. Und heute versteht er nicht, warum.

An einem Freitag im November kehrte das seltsame Gefühl zurück ins Leben von Klaus Mähler, er nennt es „das Unbehagen“. Der pensionierte Polizeihauptkommissar spazierte gerade mit seiner Frau durch das oberbayerische Städtchen Murnau, als sein Telefon läutete.

„Hast du’s schon gehört?“

Der frühere Leiter der Münchner Mordkommission war dran, ein Kollege.

„Bosporus ist gelöst. Mach dein Radio an.“

Bosporus. Unter diesem Namen hatte er als Vizechef einer Sonderkommission die Mordserie an acht türkischen und einem griechischen Geschäftsmann aufzuklären versucht, die man damals noch bedenkenlos „Dönermorde“ nannte. Klaus Mähler hatte von der Gründung im Sommer 2005 bis zum Sommer 2007 in der Leitung des Ermittlerteams gesessen. Als er ausschied, hatte es schon ein Jahr lang keinen Mordanschlag mehr gegeben, der in die Reihe gepasst hätte.

Mähler rannte jetzt zum Auto und schaltete den Nachrichtensender ein. Eine Sprecherin erklärte gerade in nüchternem Ton, man hätte die Tatwaffe, mit der die „Dönermorde“ verübt worden waren, gefunden – die Waffe, nach der Mähler so lange gesucht hatte.

Zunächst war er erleichtert, als er die Nachricht hörte. Doch das blieb nicht lange so. Denn er begriff bald, dass er den Fall damals hätte lösen können – wenn er an die richtigen Informationen gekommen wäre. Schon vor fünf Jahren glaubte er einem Profiler, der sagte, die Täter könnten Neonazis sein. Seitdem fragt er sich: „Wieso hatten wir diese Informationen nicht?“

Klaus Mähler stellt die Frage jetzt laut, in einem Café in der Münchner Innenstadt, dabei presst er die Handflächen gegen seine Schläfen. „Da gibt es zum Beispiel dieses Lied einer Neonazi-Band, in dem die Morde gefeiert werden“, sagt er, fassungslos. „Der Verfassungsschutz hätte so etwas doch wissen müssen.“

Das Lied heißt „Dönerkiller“. Die Band Gigi und die braunen Stadtmusikanten, in rechtsextremen Kreisen sehr bekannt, singt darin von den neun Morden als zusammenhängenden, ausländerfeindlichen Taten – und macht sich darüber lustig, dass die Polizei nicht weiterkommt. „Neun Mal hat er es jetzt schon getan“, heißt es da, die Ermittler „drehen durch, weil man ihn nicht findet. Er kommt, er tötet und verschwindet“. Entstanden ist das Lied erst 2010, da war Mähler schon in Pension.

Aber schon als er die Ermittlungen zu der Mordserie im Juni 2005 übernahm, gab es Hinweise auf die Täter. Weniger konkrete zwar als in dem Lied, aber Hinweise.

Wie nun aus einem geheimen Untersuchungsbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz hervorgehen soll, wusste die sächsische Staatsschutzbehörde kurz vor dem ersten Mord an dem Blumenhändler Enver Simsek im September 2000 ziemlich exakt, wo die gewalttätigen und als Bombenbauer gesuchten Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe in Chemnitz untergetaucht waren. Im April 2001, also kurz vor dem zweiten Mord, der sich abermals weit weg von Chemnitz, nämlich in Nürnberg ereignete, erfuhr der Verfassungsschutz, dass die Untergetauchten Waffen besaßen und Überfälle planten. Sie hätten, zitieren die Akten einen Zuträger, „schon so viele Sachen/Aktionen gemacht“, dass sie keine Unterstützung durch die rechte Szene mehr bräuchten. Danach brach der Kontakt ab.

Wenn die Ermittler der Soko Bosporus davon gewusst hätten, wäre ihnen zumindest eine Spur geboten worden. Aber sie erfuhren es nicht, als sie im Frühjahr 2006 begannen, den Täter im rechtsextremen Milieu zu suchen. Kein Hinweis darauf, dass den Geheimdienstlern kurz vor der Mordserie hochgefährliche Rechtsextremisten verloren gegangen waren – obwohl alle Verfassungsschutzämter in die Ermittlungen eingeweiht waren.

„Ich kann nicht glauben, dass irgendjemand diese Informationen bewusst verschwiegen hat.“ Mähler hält im Café die Hände vor seine Augen. „Wenn die Ermittlungen jetzt zu dem Ergebnis kommen, dann wäre ich …“ Er sucht nach dem richtigen Wort. „… erschüttert“, sagt er dann.

Nachdem er zwei Jahre in der Soko ohne Erfolg nach den Mördern gesucht hatte, erkrankte Mähler an Krebs und war sicher: Die Mordserie ist schuld. Ihn hatte zuletzt immer stärker die Tatsache gequält, dass er neun Morde, die zu den kaltblütigsten Verbrechen der deutschen Kriminalgeschichte zählten, nicht aufklären konnte. Das Unbehagen, das jetzt wieder da ist, hatte ihn fast jeden Tag begleitet.

„Wir haben damals wirklich alles getan, was man hätte tun können“

Im Juni 2005 war Klaus Mähler stellvertretender Leiter der neu gegründeten Soko Bosporus geworden. Die Polizei stand unter Erfolgsdruck. Schon sieben Menschen waren zu dem Zeitpunkt mit derselben Pistole getötet worden, mit einer Ceska, Typ 83, Kal. 7,65 Millimeter Browning, fünf von ihnen in Bayern. Zuletzt Ismail Yasar, Dönerbudenbesitzer, am 9. Juni in Nürnberg, und Theodoros Boulgarides, Mitinhaber eines Schlüsseldienstes, am 15. Juni in München.

Als Mähler den Fall übernahm, gab es keine heiße Spur, nur die Hypothese eines Münchner Profilers. Der Täter sollte demnach im Drogenmilieu zu finden sein oder mit Schutzgelderpressungen zu tun haben. Wegen dieser These kam Klaus Mähler in die Soko. Er war Dezernatsleiter für Organisierte Kriminalität in München. „Wir haben damals wirklich alles getan, was man hätte tun können“, sagt er, mit seiner Hand umklammert er jetzt die Zuckerdose auf dem Tisch, versucht ein Lächeln.

Bei der ersten Lagebesprechung der Soko sagte Mähler zu den rund 50 Ermittlern: „Wenn einer von euch nachts aufwacht und eine Idee hat, wie es weitergehen könnte, dann kommt zu uns. Niemand wird dann sagen: ,Was soll der Schmarrn?‘“ Ein ungewöhnliches Vorgehen für Polizisten, die es gewohnt sind, Fälle mit viel Routine zu lösen.

Die Soko rollte alle sieben bis dahin verübten Morde neu auf. Ermittler aus München untersuchten die Taten, die in Nürnberg begangen worden waren, und andersherum. Die Morde wurden im Fernsehen, bei Aktenzeichen „XY ungelöst“ gezeigt. Es gab eine Sonderausgabe des Bundeskriminalblatts über die Mordserie, die alle Polizisten in Deutschland bekamen, alle Innenpolitiker und alle Verfassungsschutzämter.

Mähler besuchte die Tatorte, rekonstruierte die Taten, ging jedem Hinweis nach. Drei Mal fuhr er deshalb nach Holland. Ein Kollege besuchte die Herkunftsorte der sieben Opfer in der Türkei und in Griechenland. Vielleicht gab es Verbindungen aus der Zeit, als sie noch nicht in Deutschland lebten?

Die Ermittler suchten nach einem Motiv, das allen Morden gemeinsam sein könnte, vom Täter fehlte jede Spur, sie suchten es bei den Opfern – und fanden keines. Im März 2006 war Mähler, der 20 Jahre lang im Dezernat Organisierte Kriminalität gearbeitet hatte, sicher: Mit organisierter Kriminalität hatten die Morde nichts zu tun. Die Stimmung in der Soko war schlecht, die Ermittler waren frustriert, nach einem halben Jahr nicht weitergekommen zu sein.

In dieser Situation beauftragte Mähler ein zweites Mal einen Profiler in München, um den Fall zu analysieren. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Täter aus der rechtsextremen Szene kämen. Der Profiler gab den Ermittlern auch ein Dossier über den schwedischen Mörder John Ausonius. Zwischen August 1991 und Januar 1992 hatte der Mann elf Migranten in Stockholm angeschossen und einen von ihnen getötet. Sein Motiv: Ausländerhass.

„Ich denke, die Thüringer haben aus Unerfahrenheit Fehler gemacht.“

Die Analyse bestätigte die Ahnungen von Mähler. Die Stimmung in der Soko besserte sich, es gab wieder etwas zu tun. Doch lange sollte das nicht anhalten. Mähler beauftragte das bayerische Verfassungsschutzamt, alle Ämter um Hinweise zur Mordserie zu bitten. Das Ergebnis: nichts.

„Es ist unglaublich, dass damals aus Thüringen keine Hinweise auf das Neonazi-Trio kamen“, sagt Mähler. „Schließlich passten sie perfekt zu unserer damaligen Ermittlungsthese, ein Ausländerhasser müsste der Täter sein.“

Kurz nachdem auch die neuen Ermittlungsansätze ins Leere gelaufen waren, passierten zwei weitere Morde. Am 4. April wurde der Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in Dortmund getötet, zwei Tage später Halit Yozgat, Betreiber eines Internetcafés in Kassel. Wieder hinterließen die Täter keine Spuren. Wieder gab es keine neuen Hinweise.

Mähler gab deshalb im Sommer 2006 ein drittes Mal eine Fallanalyse in Auftrag. Um auszuschließen, dass die Profiler von Politik oder Polizei beeinflusst waren, wurde ein Team aus Baden-Württemberg beauftragt, aus einem Bundesland ohne Tatort also. Die Falldeuter kamen zu dem Ergebnis, dass die Täter aus der organisierten Kriminalität kommen und einen rechtsradikalen Hintergrund haben könnten.

Während Mähler seinen Kollegen diese dritte Analyse vorstellte, sah er die Enttäuschung in den Gesichtern. Die neue These brachte die Soko nicht weiter, bot keine neuen Ermittlungsansätze. Er wusste jetzt selbst nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Zwei Mal hatten sie alle Mordfälle untersucht, es gab drei Fallanalysen, aus der Bevölkerung kamen keine neuen Hinweise. Die einzige Spur war die Waffe. Vom Hersteller hatten die Ermittler der Soko eine Liste mit den Seriennummern aller Ceskas Typ 83 mit Kaliber 7,65 Millimeter erhalten und versuchten den Weg jeder einzelnen Waffe zu rekonstruieren, sehr oft erfolglos.

„Jeden Tag war es von da an schwieriger, ins Büro zu gehen“, sagt Mähler. „Irgendwann war uns allen klar: Entweder wir finden die Täter per Zufall, weil wir bei einer Kontrolle auf die Waffe stoßen. Oder sie hinterlassen bei der nächsten Tat eine Spur. Eine andere Chance hatten wir nicht mehr.“

Ein ganzes Jahr ging er nach der dritten Fallanalyse noch ins Büro, bis er im Sommer 2007 krank wurde. Doch auch danach ließ ihn Bosporus nicht los, das Unbehagen blieb.

Immer wieder fragte er die Kollegen, die der Soko weiter angehörten, ob es etwas Neues gebe. Immer war die Antwort „Nein“. Immer mehr Ermittler wurden abgezogen. Es gab kaum mehr zu tun, als die Hinweise zu den Ceskas aufzunehmen. Im Jahr 2008 schließlich wurde die Soko Bosporus in eine gewöhnliche Mordkommission der Nürnberger Polizei verwandelt, Spezialgebiet Altfälle.

2010 ging Mähler in Pension, und im ersten Jahr verging keine Woche, in der er nicht mit früheren Kollegen über den Fall sprach. Im zweiten Jahr dachte er, er hätte ihn endlich abgeschüttelt. Doch am 11. November packte ihn die Mordserie wieder, mit voller Wucht.

Mit den früheren Soko-Kollegen diskutiert Mähler jetzt fast täglich die Frage, wieso der thüringische Verfassungsschutz nicht über die abgetauchten Neonazis informierte, an die er über einen Informanten relativ nahe herangekommen war und die so gut in das Täterprofil der zweiten Fallanalyse gepasst hätten.

Er sagt dann: „Man braucht viel Erfahrung, um mit V-Leuten zu arbeiten. Ich denke, die Thüringer haben aus Unerfahrenheit Fehler gemacht.“ Über andere Möglichkeiten wolle er gar nicht nachdenken.

Doch erst wenn er sicher weiß, wieso er und die anderen Ermittler der Soko keine Informationen über das untergetauchte Nazitrio erhielten, ist für ihn der Fall abgeschlossen. Dann wird das Unbehagen vielleicht endgültig verschwinden. Oder für immer bleiben.

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