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Bei so viel Frost wird sogar das Feuer kalt.

© AFP

Netanjahu, Israel und der Iran: Es ist fünf vor zwölf - seit 25 Jahren

Vor einem Vierteljahrhundert warnte Benjamin Netanjahu zum erstenmal vor dem Iran. Das Thema ist zum Nukleus seiner außenpolitischen Rhetorik geworden. Allein gegen alle. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wenn es 25 Jahre lang fünf Minuten vor zwölf ist, muss entweder die Zeit stehen geblieben, ein Alarmismus zur Routine verkommen sein oder eine Obsession vorliegen. Anfang 1992 jedenfalls, also vor einem Vierteljahrhundert, warnte der damalige israelische Knesset-Abgeordnete Benjamin Netanjahu zum erstenmal vor dem Iran als einer neuen und existenziellen Bedrohung seines Landes. In „drei bis fünf Jahren“ werde Teheran möglicherweise eine Atombombe entwickelt haben. Diese Gefahr müsse durch „eine internationale Front unter US-Führung entwurzelt“ werden, sagte er.

In den folgenden 25 Jahren verkürzten sich die Abstände solcher Warnungen ebenso wie der Zeitraum, innerhalb dessen sich der Iran von seinem Vorhaben abbringen lasse. Pi mal Daumen waren es „wenige Wochen“, „einige Monate“ oder „sechs bis acht Monate“. Das änderte sich auch nicht, als führende israelische Geheimdienstler - wie etwa der ehemalige Mossad-Chef Meir Dagan - den Einschätzungen Netanjahus widersprachen. Für „Bibi“ bildet der Iran seit 25 Jahren den Nukleus seiner außenpolitischen Rhetorik. Die Formel lautete: Je schwächer die Mullahs, desto besser für Israel.

Von Weitsicht war das Urteil allerdings nicht immer geprägt. Es dürfte heute Konsens sein, dass kaum ein Ereignis den Einfluss Irans in der Region nachhaltiger vergrößert hat als der Irakkrieg. Den freilich unterstützte Netanjahu nachdrücklich. Im September 2002, einen Monat vor der Abstimmung im US-Kongress, reiste er nach Washington und warb inständig für die amerikanische Invasion. „Ich garantiere Ihnen, dass ein Sturz Saddams enorm positive Auswirkungen auf die gesamte Region haben wird“, sagte Netanjahu in einer Anhörung vor Abgeordneten. Es gebe die „große Gelegenheit für eine Transformation“. Die Angst vor einer aggressiven Gegenreaktion in der arabischen Welt sei unbegründet. Das habe zuletzt der Verlauf des Afghanistankrieges bewiesen.

Irakkrieg - der schlechte Rat eines angeblich guten Freundes

Wahrscheinlich hätte Amerika den Irakkrieg auch ohne Netanjahus Werbeaktion geführt. Dass aber die Hoffnung auf eine Demokratisierung des Nahens Ostens - was wiederum die Sicherheit Israels erhöhen würde -  ein wichtiges öffentliches Argument für die Notwendigkeit dieses Krieges gewesen war, dürfte unbestritten sein. Der schlechte Rat eines angeblich guten Freundes: Entschuldigt hat sich Netanjahu dafür nie. Entsprechend frostig ist das Verhältnis insbesondere zu vielen amerikanischen Demokraten bis heute. Außenminister John Kerry etwa wies seine Parteifreunde mehrfach auf die Rolle Netanjahus und dessen Versprechen im Vorfeld des Irakkrieges hin.

Fünf Minuten vor zwölf, immer wieder. Im September 2012 prognostizierte Netanjahu, der Iran werde „in sechs bis sieben Monaten“ an der Schwelle zum Bau einer Atombombe stehen, bis Mitte 2013 könnte die Islamische Republik über neunzig Prozent des benötigten Urans verfügen. Szenarien eines Präventivschlages werden lanciert, Analogien zum ungehinderten Aufstieg der Nationalsozialisten gezogen.

Noch im selben Monat folgt die legendäre dramatische Rede Netanjahus vor der UN-Vollversammlung. Israels Regierungschef zeigt eine Karte mit der cartoonartigen Zeichnung einer Bombe. Die Lunte brennt. „In wenigen Monaten oder gar wenigen Wochen“ werde der Iran ausreichend angereichertes Uran für seine erste Atombombe haben, warnt er. Eine „rote Linie“ sei überschritten worden. Unmittelbar danach wiederholt er dies vor beiden Häusern des US-Kongresses. Eingeladen worden war er dazu, sehr zum Verdruss von Präsident Barack Obama, von den oppositionellen Republikanern.

Das Land verfüge bereits über sieben Tonnen angereichertes Material

Im Mai 2014 sind es nur noch „zwei Monate“, bis der Iran genügend Uran für eine Atombombe anreichern könne. Das Land verfüge bereits über sieben Tonnen angereichertes Material sowie über 18.000 Zentrifugen. Eindringlich warnt Netanjahu vor einem Abkommen mit dem Iran. Dadurch würde sich der Zeitraum, bis zu dem das Regime in Teheran die Bombe hat, nur „um wenige Wochen“ verlängern.

Und dann? Dann gibt es ein solches Abkommen mit dem Iran. Nach monatelangen Verhandlungen wird es im Juli 2015 von den fünf UN-Vetomächten und Deutschland geschlossen. Es erlaubt Iran die zivile Nutzung der Atomtechnologie, verhindert aber die Entwicklung von Atomwaffen. Netanjahu tobt trotzdem. Kein Abkommen wäre besser gewesen, poltert er. Das hätte bedeutet: Der Iran kann weiter an der Bombe basteln, seine Zentrifugen in Betrieb nehmen, Uran anreichern, ohne Kontrolle und Einflussmöglichkeiten von außen. Es wäre genau bei dem Zustand geblieben, vor dem Netanjahu stets gewarnt hatte.

Doch weil sich die Welt, zumindest aus regierungsamtlicher israelischer Perspektive, zwar dringend ändern muss, aber möglichst bleiben soll, wie sie ist, wird munter weiter gewarnt. Noch „drei Monate bis ein Jahr“ sei der Iran von der Atombombe entfernt, sagte im Januar 2016 Israels Außenminister Moshe Ya’alon. Und zwei Monate später meinte Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, Danny Danon, der Iran verfüge bereits über atomar verfügbare Raketen, „die Zeit der Diskussionen ist vorbei“.

Fünf Minuten vor zwölf, seit 25 Jahren: Ist die Zeit stehen geblieben, ein Alarmismus zur Routine verkommen oder handelt es sich um eine Obsession? Schwer zu sagen. Dass aber ausgerechnet die, die bis zum Juli 2015 allerakutesten Handlungsbedarf sahen, nun ohne eigene Alternative gegen just jenes Abkommen polemisieren, das den Handlungsdruck deutlich vermindert hat, bleibt auch im Neuen Jahr höchst unverständlich.

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