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Italiens neuer Ministerpräsident Enrico Letta.

© AFP

Neuer Premierminister warnt: "Italien stirbt an der Sanierung"

Der neue italienische Regierungschef hat sich mühelos das Vertrauen des Abgeordnetenhauses in Rom gesichert. Eine breite Mehrheit stellte sich hinter Enrico Letta. Doch der warnt. So wie bislang gehe es in Europa nicht weiter.

Italien will Steuern und Staatsschulden senken, Wachstumspolitik betreiben, dabei aber die Sanierung des Haushalts nicht gefährden; das Thema Arbeit sei "erste Priorität". Das sagte der neue Premier, Enrico Letta, bei seiner ersten Regierungserklärung am Montag Nachmittag vor dem Parlament. Außerdem kündigte er eine "unverzügliche Reise nach Berlin, Brüssel und Frankfurt" an, um die Ausrichtung seiner Regierung auf Europa und deren "Traum" von der "umfassenden politischen Einigung" des Kontinents deutlich zu machen.

Schon am Dienstag soll Letta in Berlin von Bundeskanzlerin Angela Merkel empfangen werden. Die Vertrauensabstimmung schaffte seine von einer großen Koalition getragene Regierung am Montagabend problemlos mit 453 Ja- zu 153 Neinstimmen und 17 Enthaltungen. Am Dienstag muss er sie auch in der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, bestehen. Erst dann kann das neue Kabinett, fast siebzig Tage nach den Wahlen, anfangen zu arbeiten.

"Von Sanierung allein stirbt Italien", sagte der 46-jährige Sozialdemokrat Letta unter dem Beifall der Abgeordneten. "Auf europäischer Ebene" müssten Wachstumsstrategien entwickelt werden; Europa müsse sich dafür öffnen: "Wir können mit der Wachstumspolitik nicht länger warten, die Familien leiden, es wachsen soziale Konflikte und Wut." Letta spielte damit ausdrücklich auf das Attentat eines 49-jährigen Arbeitslosen an, der am Sonntag Mittag - unmittelbar vor dem Sitz des Regierungschefs im Herzen Roms - zwei Carabinieri niedergeschossen hatte. Einer von ihnen, der weit schwerere Verletzungen an der Halswirbelsäule erlitten hatte, als es zuerst schien, schwebte am Montag noch in Lebensgefahr.

Gegen den in den vergangenen Jahren immer stärker gewachsenen Unmut der Italiener gegenüber der Politik  kündigte Letta umfangreiche Reformen an. Die staatliche Parteienfinanzierung soll "revolutioniert" werden; Minister, die gleichzeitig ein Parlamentsmandat haben und dort Diäten beziehen, müssen "sofort" auf ihr Gehalt verzichten: "Das wissen selbst meine Kabinettsmitglieder noch nicht", sagte Letta während seiner knapp einstündigen Regierungserklärung im Abgeordnetenhaus. Auch kündigte er eine eigene parlamentarisch-außerparlamentarisch besetzte Kommission zur Reform der staatlichen Institutionen an, und nachdem so viele Ansätze hierzu im Hickhack der Parteien hängen geblieben seien, "werde ich selbst nach 18 Monaten überprüfen, ob wir vorangekommen sind. Falls nicht, zieht diese Regierung unverzüglich ihre Konsequenzen", versprach Letta.

Für Berlusconis Partei "Volk der Freiheit" die neben den aktuell führungslosen Sozialdemokraten und Mario Montis "Bürgerwahl" einer der drei Bestandteile der Großen Koalition ist, waren Lettas Worte "Musik in den Ohren". Das sagte Parteisekretär, Vize-Premier und Innenminister Angelino Alfano. Er meinte damit vor allem Lettas Versprechen, die bei den Bürgern verhasste Immobiliensteuer mit sofortiger Wirkung auszusetzen und die für den Sommer bereits fest eingeplante "Verschärfung" der Mehrwertsteuer "zu vermeiden". Wie Letta allerdings die dann fehlenden Mittel aufbringen und die "wie ein Mühlstein auf Italien und den zukünftigen Generationen liegenden Staatsschulden" senken will, sagte er am Montag nicht. Auch fehlte es zwar nicht an der Ankündigung eines Bürokratieabbaus, aber Letta kam mit keinem Wort auf die überfällige, auch unter Mario Monti liegengebliebene Verschlankung der öffentlichen Verwaltung zu sprechen.

Ausdrücklich forderte der neue Ministerpräsident den nationalen Zusammenhalt und die wechselseitige "Abrüstung" der bisher gegnerischen politischen Großmächte: "Vor den neuen Herausforderungen stehen wir wie
David vor Goliath. Er hat das Schwert und den Panzer beiseitegelegt, sie hätten ihn nur beschwert, und er hat sich Kiesel aus dem Bach geholt. So brauchen auch wir Mut, Vertrauen und neue Impulse aus dem Bach der
Ideen".

Warum Letta europäisch denkt

Italiens neuer Ministerpräsident Enrico Letta.
Italiens neuer Ministerpräsident Enrico Letta.

© AFP

Unterdessen wurden in Rom weitere Einzelheiten über die Person des Attentäters bekannt, der am Sonntagmittag, während der Vereidigung des neuen Kabinetts, die Wache stehenden Carabinieri attackiert hatte. Am ersten Eindruck, es habe sich um einen Einzeltäter gehandelt, ändert sich demnach nichts. Zwar weist nach Angaben der Polizei die getilgte Matrikelnummer seiner halbautomatischen Pistole auf einen mafiösen Ursprung der Waffe hin; allerdings, so heißt es, seien gerade in der Heimat des Attentäters, in Kalabrien, illegale Waffen sehr leicht zu erhalten, auch ohne formelle Bindung an die lokale 'Ndrangheta.

In italienischen Medien erklärten am Montag von der früheren Ehefrau des Attentäters über Freunde und Nachbarn alle möglichen Zeugen, der 49jährige, "immer gewissenhafte und sehr fleißige" Fliesenleger Luigi P. sei in seiner Familie und in seinem Beruf als Angestellter, als Selbstständiger und schließlich als Tagelöhner zwar gescheitert, habe aber nie irgendeine Neigung zu Gewalt erkennen lassen. Allerdings, so seine Ex-Frau, habe er viel Geld bei "seinem Laster, dem Spiel verloren".

Die  Mailänder Zeitung "Corriere della Sera" schreibt, den Staatsanwälten habe der von den Carabinieri sofort überwältigte, aber weitgehend unverletzte Luigi P. gesagt: "Als 50jähriger kannst du nicht, wie ich's gemacht habe, zu den Eltern zurückgehen, wenn du es anderweitig nicht schaffst, dich durchzubringen. Den Politikern aber geht's gut, und sie genießen es. Ich wollte einen von denen treffen." Er sei verzeifelt gewesen, weil er seinen elfjährigen Sohn nicht mehr habe unterstützen können, soll Luigi P. bei einer weiteren Vernehmung gesagt und hinzugefügt haben, eigentlich habe er "nicht töten, sondern selber sterben" wollen. Allerdings hat aber niemand gesehen, dass er die Pistole gegen sich gerichtet hätte. Nach Polizeiangaben wusste er hingegen ziemlich genau, wohin er zielen wollte: an den schusssicheren Westen der Carabinieri vorbei, auf Hals und Beine.

Beobachter hatten vom neuen Premier in der Tat eine stark auf Europa und auf den politischen Zusammenhalt in Italien selbst ausgerichtete Regierungserklärung erwartet. Schon biographisch schien das nahezuliegen: Letta ist zwar in der Toskana, in Pisa, geboren, seine Eltern stammen aber aus den Abruzzen und aus Sardinien. Politisch hat er nach seinem Jurastudium und seiner Dissertation über die Europäische Außen- und Sicherheitspoliitk bei der bald danach untergegangenen "Democrazia Cristiana" begonnen, und zwar im Außenministerium und bei jenem Politiker – Beniamino Andreatta – der die Dauerkonfrontation zweier Machtblöcke in Italien beenden wollte. Andreatta gilt als Vordenker des Mitte-Links-Bündnisses, das Romano Prodi dann im "Olivenbaum" verwirklichen wollte und dessen Vizechef Letta heute ist.

Außerdem hat Letta in seinen politischen Lehrjahren die italienischen Zustände von europäischer Warte aus gesehen – was nicht vielen Parteifunktionären beschieden war: Als Präsident der europäischen Jugendorganisation der Democrazia Cristiana – aus ihr ist später die Jugendorganisation der Europäischen Volkspartei hervorgegangen – gelangt Letta im Alter von 25 Jahren, 1991, nach Maastricht und lebte eine Zeitlang dort. Es muss für ihn eine bleibende politische Erleuchtung gewesen sein, nach eigenem Bekunden auf jeden Fall "eine fantastische Erfahrung", die Prozesse des europäischen Zusammenwachsens "live mitzubekommen und zugleich Italien von Brüssel aus zu sehen. In Rom regierten damals Craxi, Andreotti und Fanfani, der schlimmste Ausdruck italienischer Politik überhaupt."

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