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Die Kanzlerkandidaten und -kandidatin punkten eher mit dem persönlichen Auftritt.

© Kay Nietfeld/dpa

Persönliche Begegnung statt Triell: So wichtig ist der Straßenwahlkampf für die Demokratie

Sie kommen oft aus prekären Lebenslagen und fühlen sich von der Politik nicht angesprochen. Ein Experte erklärt, wie Parteien Nicht-Wähler erreichen können.

Von Lisa Breuer

Bei der letzten Bundestagswahl sind mehr als 47 Millionen Bürgerinnen und Bürger zur Wahl gegangen. Das sind 76,2 Prozent der Wahlberechtigten. Die Wahlbeteiligung war zwar höher als 2013 (71,5 Prozent), jedoch kommt sie lange nicht auf die Rekordzahlen der 1970er-Jahre. Denn 1972 waren 91,1 Prozent der Menschen in Deutschland zur Wahl gegangen.

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Nicht-Wähler kommen oftmals aus prekären Verhältnissen, sie haben ein niedriges Einkommen und einen niedrigen Bildungsstatus. Besonders deutlich wird dies etwa beim Vergleich der Wahlbeteiligung in zwei Berliner Stadtteilen: Zur Bundestagswahl 2017 stimmten im eher ärmeren Viertel Marzahn-Hellersdorf nur 69,3 Prozent ab. In Steglitz-Zehlendorf jedoch, einem wohlhabenderen Stadtbezirk, gingen 81,7 Prozent zur Wahl. Dort leben auch wesentlich mehr Akademiker - dafür weniger Menschen, die in sozial schwachen Milieus leben.

Und dieses Jahr? Spricht der Bundestagswahlkampf vielleicht vor allem Akademiker an? Dagegen spricht, dass es beispielsweise bei den Triellen bisher vor allem um das persönliche Auftreten von Olaf Scholz (SPD), Annalena Baerbock (Grüne) und Armin Laschet (CDU) ging. Der Direktor des Instituts für Demokratieforschung in Göttingen, Simon Franzmann, betont zudem, dass die Personalisierung eines Wahlkampfs auch ein Vorteil sein kann - und die Forderung nach Inhalten manchmal schon akademisiert sei. „Diskussionen zu politischen Inhalte sind häufig von sehr akademischen Erwartungen geprägt“, sagt Franzmann.

Die Diskussion beim Vierkampf war mit vielen Inhalten beladen.
Die Diskussion beim Vierkampf war mit vielen Inhalten beladen.

© Annette Riedl/dpa

Im Triell gehe es eben mehr um die Persönlichkeiten der Spitzenpolitiker – und über das Auftreten der Personen bei einem solchen Wettkampf werde viel transportiert. „Die Bürgerinnen und Bürger haben dann meist ein gutes Gefühl dafür, für welche Politik der Kandidat oder die Kandidatin steht“, sagt der Demokratieforscher. So könnten auch Menschen, die sich weniger mit Politik beschäftigen, eine für sie zufriedenstellende Entscheidung treffen.

Trotzdem sei die Personalisierung eines Wahlkampfes ein „wahnsinniges Dilemma“, sagt Franzmann. Denn bei einem solchen Wahlkampf gebe es einerseits die Gefahr, dass zu wenig über Inhalte gesprochen wird. Andererseits müsse man aufpassen, dass Wählerinnen und Wähler den Wahlkampf gut nachvollziehen und verstehen können.

Wahlprogramme in ‚leichter Sprache‘

Um die Inhalte verständlich an alle Bürgerinnen und Bürger zu bringen, haben alle Parteien außer der AfD ihre Parteiprogramme in leichte Sprache übersetzt. Beim Programm der SPD steht unter dem Punkt "Eine Gesellschaft des Respekts" zum Beispiel dieser Absatz: „Wir stehen für eine Gesellschaft des Respekts. Eine Gesellschaft, in der wir uns gegenseitig anerkennen, auch wenn wir in vielerlei Hinsicht verschieden sind.“

Die wichtigsten Tagesspiegel-Artikel zur Bundestagswahl 2021:

Im Wahlprogramm in leichter Sprache wurde die Passage so übersetzt: „Die Menschen in der Gesellschaft respektieren sich auch. Das heißt zum Beispiel: Sie gehen gut miteinander um. Und sie nehmen die Meinung von jedem Menschen ernst.“

Demokratieforscher Simon Franzmann stellt jedoch fest: „Parteiprogramme in leichter Sprache lesen eher Menschen, die sich ohnehin mit Politik beschäftigen.“ Vielmehr sei eher der Wahl-O-Mat zum Beispiel ein gutes Konzept, um Menschen zur Wahlentscheidung zu bewegen. Denn es helfen auch Schülerinnen und Schüler dabei, die Fragen auszuwählen.

Türklingel-Wahlkampf „sehr unterschätzt“

Doch das wichtigste Instrument, um Wählerstimmen zu gewinnen, sei der „Türklingel-Wahlkampf“, sagt Franzmann. Wenn Politiker persönlich mit den Menschen in ihrem Wahlkreis sprechen, kombiniert sich der Persönlichkeitsaspekt der Kandidierenden mit den Inhalten einer Partei. Diese Wahlwerbung funktioniere genau wie konventionelle Wahlplakate ziemlich gut und sei „sehr unterschätzt“, sagt der Demokratieforscher. Parteien könnten dadurch auch viele Nicht-Wähler bewegen: „Da kann man sich als Partei auch fragen: Wo sind die Viertel, wo die Menschen nicht wählen?“

Denn Menschen, die nicht wählen gehen, sind oftmals nicht uninteressiert am politischen Geschehen. Franzmann stellt sogar fest: Potentielle Wählerinnen und Wähler enthalten sich, weil sie unzufrieden mit der Politik sind. „Oft wählen Leute nicht, die sich in der Demokratie und der Gesellschaft nicht berücksichtigt fühlen“, sagt der Demokratieforscher. Besonders Langzeitarbeitslose wählen seltener.

Ottilie Klein und Paul Ziemiak von der CDU beim Haustürwahlkampf in Berlin.
Ottilie Klein und Paul Ziemiak von der CDU beim Haustürwahlkampf in Berlin.

© imago/Jens Schicke

Das sei eine Gefahr für die Demokratie. Denn wenn Menschen in prekären Lebenslagen nicht wählen gehen, werden ihre Anliegen in der Politik auch weniger berücksichtigt. Zudem sind sie dann personell schlechter vertreten. Zum Vergleich: Unter allen 6211 Kandidierenden für die Bundestagswahl arbeiten laut der Liste des Bundeswahlleiters 1342 Personen in der Unternehmensführung und -organisation. Nur eine einzige Reinigungskraft kandidiert.

Um mehr Menschen zur Wahl zu bewegen, müsste es langfristig eine geringere soziale Ungleichheit, bessere Aufstiegschancen und mehr politische Bildung geben, sagt Simon Franzmann. Denn mehr Gerechtigkeit bedeute, dass sich die eigene Situation vieler Menschen verbessere und sie sich so besser im politischen System aufgehoben fühlen.

Doch auch mit kurzfristigen Methoden könne man die Wahlbeteiligung erhöhen, sagt Franzmann. Man müsse für Themen eine knappe Formel finden, die alle mitnimmt und bewegt: „Ein Beispiel dafür war Merkels ‚Wir schaffen das‘ während der Flüchtlingskrise 2015.“ Menschen hätten auch dadurch begriffen, dass sie das Thema persönlich betrifft. Auch die Klimapolitik könnte in der Zukunft so ein Thema werden.

Grundsätzlich sei die soziale Gerechtigkeit jedoch der größte Faktor, um Wählerinnen und Wähler in die Kabine zu bekommen, sagt Franzmann: „Generell gilt: Je mehr Menschen sich zur deutschen Gesellschaft wirklich zugehörig fühlen, desto mehr gehen wählen.“

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