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Politik: Nicht wegzudenken

Europäische Asylpolitik: Bundesverfassungsgericht mahnt Rücksicht auf die Menschenwürde an

Zehntausende Asylsuchende, geschlossene Behörden, überfüllte Knäste, Menschen ohne Recht und Obdach: Dies ist das Bild, das Flüchtlingsorganisationen von der Lage in Griechenland zeichnen. Seit Donnerstag verhandelt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Fall eines irakischen Kurden, den deutsche Behörden auf Grundlage einer EU- Verordnung nach Griechenland abschieben wollen. Hat er einen Anspruch, wenigstens so lange in der Bundesrepublik zu bleiben, bis sein Fall geklärt ist? „Das Verfahren wirft grundsätzliche Fragen des Zusammenwirkens der verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Regelungen des Asylverfahrens auf“, sagt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Und die Richter deuten an, dem Grundgesetz, allem voran der Menschenwürde, zu mehr Platz und Bedeutung in dem verworrenen System des Flüchtlingsschutzes verhelfen zu wollen.

1993, auf dem Höhepunkt des Asylansturms, fügte der Gesetzgeber den Artikel 16a ins Grundgesetz ein. Wer aus einem sicheren Drittstaat einreist – und dazu zählen alle EU-Staaten – kann kein Asyl beanspruchen. Eine Abschiebung in den Einreisestaat ist sofort möglich, selbst wenn sich der Betroffene vor Gericht wehrt. Die EU-Verordnung von 2003 regelt, welcher Staat in der EU für den Asylantrag zuständig ist. Grundsätzlich ist es der Einreisestaat.

Die EU-Verordnung bringt die Länder Nord- und Mitteleuropas in eine komfortable Lage. Denn der Zustrom läuft via Südeuropa. Deutschland registrierte im vergangenen Jahr 33 000 Anträge, Anfang des Jahrtausends waren es dreimal so viele, in den Jahren des größten Ansturms zehn- bis fünfzehnmal so viele. Und im Ankommensfall kann unverzüglich in den Drittstaat zurückgeschoben werden. Nur dagegen wehrt sich jetzt der Iraker. Denn das Grundgesetz, argumentiert er, gebe ihm einen Anspruch auf Rechtsschutz, der durch die sofortige Rücküberstellung verletzt wird.

Für die Richter stellt sich jetzt die komplizierte Frage, wem Vorrang gebührt: dem Einzelnen oder dem System. Die Lage in Griechenland, betont Gerichtspräsident Voßkuhle, sei „einigermaßen prekär“. Iraner, Iraker, Afghanen und Somalier drängen in das kleine Land. Rund um Athen bilden sich Ghettos, an den großen Häfen bauen die Flüchtlinge Baracken. Richter Udo Di Fabio spricht deshalb davon, die grundgesetzlich garantierte Menschenwürde sei aus dem ganzen Verfahren nicht wegzudenken.

„Griechenland ist ein sicherer Rechtsstaat“, sonst wäre es nicht Mitglied der EU, meint Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Das Verfassungsgericht habe den Asylkompromiss gebilligt und damit auch das Konzept von sicheren Drittstaaten. Das Gericht habe damals zwar von Ausnahmen gesprochen, aber nur wenn sich die Verhältnisse in einem Land grundstürzend änderten, etwa wenn eine Militärdiktatur errichtet werde und der Staat selbst begönne, Bürger aus politischen Motiven zu verfolgen. In Griechenland sieht der Minister „Defizite“, der Andrang sei mit knapp 16 000 Antragstellern 2009 aber nicht außergewöhnlich.

Wie es aussieht, wollen die Richter der Bundesregierung nicht in die Parade fahren – und auch nicht der Linie des Beschwerdeführers folgen, der die Drittstaatenregelung für unvereinbar mit EU- Recht hält. Die Verwaltungsgerichte sind bei Griechenlandüberstellungen zurückhaltend geworden, die Behörden machen unter dem Druck der Justiz verstärkt von ihrem „Selbsteintrittsrecht“ Gebrauch. Allein in diesem Jahr bis September seien in 1017 Fällen griechische Asylverfahren in Deutschland akzeptiert worden, sagte de Maizière, gegenüber 43 Rücküberstellungen. Doch auf der Richterbank war auch von europäischer Solidarität und gerechter Lastenverteilung die Rede. Man möchte offenbar eine Lösung, die Einzelne besser schützt, ohne das eingeübte System infrage zu stellen.

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