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Noam Chomsky: „Europas Krisenstrategie ist Selbstmord“

Die Tea-Party-Bewegung erinnert ihn an die Nazis, Obama lässt Unschuldige morden, und auch dem Tagesspiegel misstraut er: Noam Chomsky ist streitlustig wie eh und je.

Noam Chomsky, 83, Professor am Massachusetts Institute of Technology, hat die moderne Linguistik stark geprägt. Mit seinem Protest gegen den Vietnamkrieg begann in den 60er Jahren sein politisches Engagement, die „New York Times Book Review“ nannte ihn den wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart

Herr Chomsky, Sie mischen sich seit mehr als 50 Jahren immer wieder in politische Diskussionen ein und gelten als einer der prominentesten Kritiker der US-Politik. Haben Sie nie darüber nachgedacht, selbst in die Politik zu gehen?

Ich wäre furchtbar schlecht darin. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: An meiner Fakultät gibt es einen demokratisch gewählten Institutsleiter, das Amt rotiert alle paar Jahre, so dass jedes Fakultätsmitglied irgendwann mal dran ist. Der einzige, der das niemals machen durfte, bin ich – weil ich alles so schnell kaputtmache. Zum anderen habe ich aber auch keine Lust, in die Politik zu gehen.

Warum?
Weil ich glaube, dass ich außerhalb der Politik mehr erreichen kann.

Hat das auch etwas damit zu tun, wie Sie über das politische System der USA denken?
Es gibt Politiker, die einen guten Job machen. Doch normalerweise reagiert das System nur auf Druck von unten, wie man an den Reformen des New Deal in den 1930ern sehen kann. Präsident Roosevelt hatte Sympathien für die Forderungen von der Straße. Aber es war im Wesentlichen der Druck der sozialen Bewegungen, welcher zu den sinnvollen Antworten auf die Krise der Großen Depression führte. Auch Lyndon B. Johnson hat in den 1960ern auf die massenhafte Mobilisierung von unten reagiert, was dazu führte, dass die USA eine Art sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat aufbauten, im Vergleich mit Europa ziemlich limitiert, aber immerhin.

Die Protestbewegung der Stunde zeltet auf öffentlichen Plätzen und nennt sich Occupy. Sie selbst haben die Bewegung als die erste bedeutende Antwort der Bevölkerung auf 30 Jahre Klassenkampf genannt. Was hat Occupy bislang erreicht?
Es hat die öffentliche Wahrnehmung und den öffentlichen Diskurs beeinflusst. Die „Ein Prozent gegen 99 Prozent“-Metaphorik gehört selbst im Mainstream inzwischen zum Standard. Das ist nicht unbedeutend, weil dadurch die massive politische und wirtschaftliche Ungleichheit in den USA ins Bewusstsein drängt. Es gibt auch konkrete Forderungen, die ich für sehr sinnvoll halte, wie eine Reform der Wahlkampffinanzierung, eine Finanztransaktionssteuer, Hilfen für Hauseigentümer und Mieter oder Umweltschutzgesetze. Und vielleicht noch wichtiger: Occupy hat es geschafft, eine Gemeinschaft von gegenseitiger Hilfe aufzubauen. Die Leute auf den Plätzen haben Büchereien eingerichtet, gemeinsame Küchen und anderes. Das ist viel wert, gerade in einer so stark atomisierten Gesellschaft wie den USA, wo sich viele hilflos und alleine fühlen.

Ein zentrales Thema von Occupy ist die globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Wie beurteilen Sie die Antworten der USA und der EU auf die Krise?
Die US-Politik war etwas besser. Die europäische Krisenstrategie ist Selbstmord. Es ist ziemlich schwierig, die Politik der sogenannten Troika unter der Führung Deutschlands als etwas anderes als Klassenkampf zu interpretieren. EZB-Präsident Mario Draghi hat selbst gesagt, dass man den Sozialstaat loswerden will.

Draghi hat gesagt, dass die Arbeitsmärkte in vielen Ländern unfair sind. Ältere Arbeitnehmer sind gut geschützt, junge nicht. Zudem schlug er vor, den Fiskal- durch einen Wachstumspakt zu ergänzen.
Endlich redet man darüber. Europa hätte genügend Ressourcen, um die Nachfrage zu stimulieren und die Wirtschaft in Gang zu bringen. Aber eine Sparpolitik in Zeiten einer Rezession ist eine Anleitung zum Selbstmord. Sogar Studien des IWF zeigen das. Der Effekt der aktuellen Politik, und vermutlich auch die Intention, ist der Abbau des Wohlfahrtsstaates.

Warum sollte das ein Ziel sein?
Schauen Sie sich an, wer diese Politik entwirft. Europa ist ein vergleichsweise zivilisierter Ort. Aber das hilft der allgemeinen Bevölkerung und nicht unbedingt der Unternehmerschaft und den Superreichen. Wenn man das demontieren kann, schön. Es ist schwer, eine andere Begründung für die aktuelle Politik zu finden, obwohl sie, wie Sie zu Recht sagen, derzeit etwas ins Wanken gekommen ist.

Wie wäre es mit dieser Erklärung: Einige Staaten müssen ihre Schulden abbauen.
Wenn man verschuldet ist, muss man der Wirtschaft zu Wachstum verhelfen. Sparpolitik macht alles nur noch schlimmer. Das war von Anfang an klar, und man sieht ja derzeit, wo es hinführt.

Was die Tea-Party-Bewegung mit den Nazis gemein hat

Wenn die reicheren EU-Länder für hoch verschuldete Länder wie Griechenland nicht zahlen wollen, was wäre dann die Alternative? Der Staatsbankrott?
Jedes Land hat seine eigenen Probleme. In Griechenland hat der Staat kaum Steuern eingenommen, zudem gibt es zu viel Bürokratie. Bei den Schulden haben auch die deutschen und französischen Banken eine Verantwortung. Wenn man den Kapitalismus ernst nehmen würde, dann wäre das Schuldenproblem ein Problem der Gläubiger.

Aber es muss doch eine Garantie dafür geben, dass das Geld zurückgezahlt wird.
Nicht im Kapitalismus. Wenn die Banken nicht klug genug waren, zu wissen, dass die Schulden nicht zurückzuzahlen sind, dann müssen sie auch mit dem Verlust leben. Man muss die Schulden aber nicht der Bevölkerung aufbürden.

Der Wahlkampf in den USA nimmt Fahrt auf. Wie beurteilen Sie die erste Amtszeit von Barack Obama?
Ich hatte nicht viel von ihm erwartet, deswegen wurde ich auch nicht enttäuscht. Als er das Amt übernahm, auf dem Gipfel der Finanzkrise, musste er ein Wirtschaftsteam zusammenstellen. Nun, wen hat er ausgewählt? Er holte die Leute, welche die Krise verursacht haben. Ein Artikel in der Wirtschaftspresse besprach damals die Zusammenstellung von Obamas Team. Der Autor kam zu dem Schluss, dass die Hälfte dieser Leute nicht in den Beraterstab gehören, sondern vor Gericht. Ein Großteil seiner Wahlkampfspenden bekam Obama 2008 aus dem Finanzsektor, der lieber ihn als McCain haben wollte. Obama hat also nur die Leute ausbezahlt, die ihn ins Amt gebracht hatten.

Aber man muss Obama doch zugutehalten, dass er zum Beispiel die Gesundheitsreform durchgesetzt hat.
Würden die USA ein System haben wie andere Industrienationen, dann gäbe es nicht mal mehr ein Haushaltsdefizit. Ein hauptsächlich privates, unreguliertes Gesundheitssystem ist extrem ineffizient und teuer. Die Obama-Reform ist besser als das, was es vorher gab, aber weit vom Optimum entfernt. Die öffentliche Option, also die Möglichkeit, dass sich Millionen Unversicherter für eine staatliche Krankenversicherung entscheiden können, hatte Obama schnell aufgegeben.

In Bildern: Der lange Weg zu Obamas Gesundheitsreform

Er musste Zugeständnisse an die Republikaner machen.
Viele behaupten, angesichts der politischen Verhältnisse habe er das Beste rausgeholt. Doch der Präsident hat viel Macht. Zum Beispiel kann er sich an die Bevölkerung wenden, die in diesem Fall stark für eine staatliche Krankenversicherung war. So hatte es auch Roosevelt geschafft, die New-Deal-Gesetze einzuführen und sich gegen private Lobbygruppen durchzusetzen.

Die Republikaner haben die Tea-Party-Bewegung...
Die Tea-Party ist keine soziale Bewegung, sondern wird massiv vom privaten Kapital unterstützt. Das ist eine Bewegung, die demografisch gesehen dem nicht unähnlich ist, was die Nazis organisiert haben. Kleinbürgertum, relativ wohlhabend, ausschließlich Weiße, die Angst vor Fremden haben, weil sie fürchten, dass die weiße Bevölkerung irgendwann in der Minderheit ist.

Die Tea-Party hat es geschafft, Dutzende ihrer Unterstützer in den Senat und den Kongress zu bringen.
Es ist nicht schwer, erfolgreich zu sein, wenn man so viel Unterstützung von den Konzernen hat. Und die Republikaner mobilisieren sie. Sehen Sie, die Republikaner sind schon lange keine traditionelle Partei mehr. Sie agieren im vorauseilenden Gehorsam mit den Reichen und der Unternehmerschaft. Aber so kann man keine Wahlen gewinnen. Also mobilisieren sie andere Teile der Bevölkerung, zu der auch die religiöse Rechte gehört.

Bei den Republikanern gehen viele auch auf Distanz zu diesen Gruppen.
Ja, man hat das während der republikanischen Vorwahlen gesehen. Mitt Romney war Kandidat des Establishments, ein reicher Geschäftsmann. Aber er war nicht populär, weshalb immer wieder Gegenkandidaten auftauchten: Santorum, Gingrich und so weiter. Sie alle mussten mit Schmierkampagnen niedergemacht werden. Man konnte merken, wie sehr das Establishment, die reichen Banker und Geschäftsleute, Angst vor ihnen hatten.

Wegen ihrer Irrationalität?
Nehmen Sie die deutsche Geschichte. Die Unternehmerschaft hatte die Nazis anfangs unterstützt. Die waren diejenigen, die Gewerkschaften und die Linke zerschlugen. Und die Unternehmer dachten, sie könnten die Nazis kontrollieren. Konnten sie aber nicht.

Die internationale Propaganda und Hugo Chávez

Sie haben mal gesagt, dass man jeden US-Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg aufhängen müsste, würde man die Prinzipien der Nürnberger Prozesse anwenden. Gilt das auch für Obama?
Schauen Sie sich die globale Mordkampagne der Obama-Regierung an. Damit missachtet man Prinzipien, die bis zur Magna Charta zurückreichen.

Sie meinen die unbemannten Drohnenangriffe in Ländern wie Pakistan, Jemen oder Somalia.
Wenn der Präsident der Auffassung ist, man müsste jemanden töten, dann wird der getötet – und alle anderen, die zufälligerweise um ihn herum stehen. Das ist ein Verstoß gegen die Grundlagen des anglo-amerikanischen Rechtes und das, was man die Unschuldsvermutung nennt. Man kann jemanden nur dann bestrafen, wenn er vor Gericht für schuldig befunden wurde.

Wofür plädieren Sie: Terrorverdächtige durch gezielte Polizeiaktionen aus dem Verkehr zu ziehen?
Nehmen wir einmal an, Sie glauben, dass es eine Gruppe gibt, die einen Laden ausrauben will, dann können Sie die nicht einfach verhaften. Das heißt, in einem Polizeistaat können Sie so etwas natürlich machen. Als die Obama-Regierung einen amerikanischen Bürger, Anwar al Awlaki, tötete, da erklärte die Regierung, er habe ein rechtsstaatliches Verfahren gehabt. Nun, das bedeutet eigentlich Dinge wie das Prinzip, vor Gericht „von seinesgleichen“ gerichtet zu werden und so weiter. Die Regierung dagegen argumentierte, dass al Awlaki ein rechtsstaatliches Verfahren gehabt habe, weil sie es innerhalb der Exekutive ausdiskutiert hätten. Und die Unschuldsvermutung? Einer von Obamas Sicherheitsberatern sagte, jeder, den wir töten, ist schuldig, solange im Nachhinein nicht seine Unschuld bewiesen werden kann. All das ist der Öffentlichkeit bekannt.

Sie sind bekennender Anarchist. Gibt es in Ihren Augen derzeit überhaupt einen Politiker auf der Weltbühne, der einen guten Job macht?
Politische Führer machen technisch gesehen nie einen guten Job. Wenn man in einer Position der Macht ist, versucht man gewöhnlich, diese auszuweiten.

Vor knapp drei Jahren haben Sie Venezuelas Präsident Hugo Chávez besucht. Damals lobten Sie…
Das ist doch alles Propaganda. Ich bin auf die Bitte eines Freundes nach Caracas gefahren. Ich war dort für 24 Stunden, gab ein paar Vorträge und sprach eine Weile mit Chávez. So, wie ich auch schon mit anderen politischen Führern wie Ecuadors Correa, Brasiliens Lula oder in Indien mit Indira Gandhi gesprochen habe.

Sie haben Chávez gesagt, dass Sie sehen können, wie er eine bessere Welt schafft.
Ich habe gesagt, es ist einfach, darüber zu reden, wie man eine bessere Welt schafft, aber es ist schwieriger, das umzusetzen.

Und da haben Sie sich nicht auf Chávez bezogen?
Ja, indirekt. Es gibt Dinge, die macht seine Regierung sehr gut, es gibt anderes, was sie nicht so gut macht. Ich sage das ständig. Das Treffen mit Chávez wurde sofort vom internationalen Propagandasystem aufgegriffen, dem wahrscheinlich auch die Zeitung angehört, für die Sie schreiben. Es wurde sofort zum großen Thema gemacht, weil wir alle Chávez hassen sollten.

Ich wollte eigentlich fragen…
Ich mache Ihnen persönlich keinen Vorwurf. Es ist nur so, dass jeder, der dem internationalen Propagandasystem ausgesetzt ist, sofort diesen Fall aufgreift und keinen anderen.

Sie kritisieren ständig die US-Außenpolitik und US-Politiker dafür, dass sie Diktatoren unterstützen. Haben Sie mit Chávez über dessen gute Beziehungen zu Kubas Ex-Regierungschef Fidel Castro oder Irans Präsidenten Ahmadinedschad gesprochen?
Als ich mit Indira Gandhi gesprochen habe, da habe ich ihr auch keine Ratschläge über indische Außenpolitik gegeben. Das ist doch lächerlich.

Immerhin bewundert Hugo Chávez Sie. In einer Rede vor den Vereinten Nationen hat er eines Ihrer Bücher zur Lektüre empfohlen. Da ist es doch nicht abwegig, davon auszugehen, dass Sie einen Einfluss auf ihn haben könnten.

Mein Einfluss ist gleich null. Warum sollte ich erwarten, dass irgendjemand dem, was ich sage, Aufmerksamkeit widmet.

Schließlich ist das Ihr Metier: Vorträge halten, Interviews geben, Artikel schreiben. Sie reden doch auch mit mir, weil sie wohl davon ausgehen, dass irgendjemand dem Beachtung schenkt.
Ich treffe mich mit Ihnen, nicht mit Angela Merkel. Und wenn ich Merkel treffen würde, würde ich keine Vorträge über deutsche Außenpolitik halten.

Glauben Sie, dass politische Führer generell immun gegen Ihre Ratschläge sind?
Selbstverständlich. Es gibt Intellektuelle, die sich aufbauschen und vorgeben, einflussreich zu sein, Leute wie Bernard-Henri Lévy. Tatsächlich beachten politische Führer sie überhaupt nicht. Sie reagieren vielleicht, wenn es Massenbewegungen und substanziellen Aktivismus gibt.

Und deswegen richten Sie Ihre Botschaften nur an die Bevölkerung.
Ich würde den Politikern ja nichts erzählen, was sie nicht sowieso schon wissen. Dass zum Beispiel Sparprogramme in Zeiten einer Rezession schädlich für die Wirtschaft sind, muss ich Angela Merkel doch nicht sagen. Das kann sie schon für sich selber herausfinden, wahrscheinlich hat sie das schon vor langer Zeit getan.

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