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Norbert Blüm (CDU) war von 1982 bis 1996 Bundesminister für Arbeit und Soziales.

© imago/Müller-Stauffenberg

Norbert Blüm über die Regierungsbildung: Ohne große Aufgaben keine große Koalition

Die Welt brennt. Und in Berlin sitzen Koalitionsverhandler zusammen, als ginge es um die Routine-Reparatur eines alten Hauses. Ein Weckruf.

Als ein „Bohren dicker harter Bretter“ hat Max Weber die Politik beschrieben. Das bezeichnet jedoch nur die Methode, nicht aber den Zweck der Politik.

„Murks“ passiert dem Schreiner leicht, der nicht weiß, für was er die Bretter bohrt. Der Schreiner wie der Politiker muss immer einen Entwurf im Kopf haben, aus dem sich ergibt, was mit dem Loch im Brett geschehen soll. Es gilt auch für Koalitionen: Ohne Konzept droht Konfusion.

Der Zweck heiligt zwar nicht die Mittel, aber ohne Zweck sind die Mittel sinnlos. Das „gute Zusammenleben“ der Menschen ist das Ziel jeder vernünftigen Politik. Über die Bedingungen dafür streiten sich die Menschen oft nicht weniger als über die Ziele. Bisweilen geraten sie dabei sogar in Gefahr, des Streites wegen zu vergessen, warum und wofür sie streiten. So verschlingen die Mittel den Zweck.

Politik bedarf einer Hierarchie der Prioritäten, um Wichtiges vom Unwichtigen unterscheiden zu können.

Konzentration auf die Ziele ist für Handwerker ebenso wie für Politiker wichtig. „Man darf sich nicht verzetteln“ ist der volkstümliche Rat für jede gute Arbeit. Selbst beim Feiern darf man nicht vergessen: Man kann nicht auf zwei Hochzeiten zugleich tanzen. Von zwei ist eine schon zu viel.

Was ist die Hauptaufgabe, die wir lösen müssen? Das ist die Elementarfrage jeder Regierung, denn (siehe oben): „Man darf sich nicht verzetteln“. Zu viele Zettel der Verhandler erschweren jede Koalitionsvereinbarung.

Ohne Konzentration gerät Politik wie Handwerk in die Gefahr der „Geschaftelhuberei“. Mit dem Ruf „Es muss etwas geschehen“ täuschen Ratlose Geschäftigkeit vor und geben diese als Problemlösung aus. Doch Betriebsamkeit ersetzt nicht Ergebnisorientierung. Aktivismus verführt leicht zur Oberflächlichkeit.

Die Herstellung eines Warenkatalogs reicht nicht für den handwerklichen Erfolg  und die Sammlung von Forderungen nicht für politische Ergebnisse

Die Zusammenarbeit, um die es bei Koalitionsverhandlungen geht, gelingt am besten, wenn alle wissen, was Ziel des Arbeitsvorhabens ist und worauf sie sich konzentrieren müssen.

Bevor  - wie sintemal in den Jamaika-Verhandlungen - 50 Verhandler auskundschaften, was die Koalition  alles machen „kann“, „soll“ und „muss“, ist es zielführender, sich auf die Hauptziele ihrer Koalition zu einigen.

Wer auf „Schwarmintelligenz“ bei Koalitionsverhandlungen setzt, übersieht die Differenz zwischen Vogelflug und Politik. Wenn die Experten beginnen, ihre Liebhabereien auszupacken, gewinnt keine Koalition Flughöhe. Denn jeder Fachmann hält seine Sache für die Wichtigste, von dem das Zustandekommen der Koalition abhängt.

Der Massenauftrieb von Koalitionären führt leicht zu einem Maskenball der Eitelkeiten

Der Massenauftrieb von wichtigen Koalitionären oder solchen, die sich für wichtig halten, führt leicht zu einem Maskenball der Eitelkeiten, der bei den Jamaika-Verhandlungen seine telegenen Runden auf dem Balkon der Berliner „Parlamentarischen Gesellschaft“ drehte.

Verhandlungen ohne vorhergehende Verständigung über das Hauptziel ähneln dem Herumirren im Wald, in dem man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Für Adenauer war Westbindung der Zielpunkt. Für Erhard Soziale Marktwirtschaft. Für Brandt die Ostpolitik . .  Für was steht die Große Koalition? Ohne große Aufgaben keine Große Koalition.

Die Basis für eine Koalition wird umso tragfähiger, je mehr die vereinbarten Ziele gleichzeitig das Kontrastprogramm zur oppositionellen Alternative sind. Umstrittene Absichten  schweißen zusammen und bringen „klare Kanten“ zwischen parlamentarische Mehrheit und Minderheit ins Parlament und bringt Leben in die Debatten. Kampf zwischen Mehrheit und Minderheit sind das Salz in der Suppe der Demokratie.

Was könnte die spezifische Differenz zwischen „Großer Koalition“ und Opposition sein?

Die Welt brennt. Atomkriege drohen. Trump ist offenbar auf der Suche nach jeder Feuerstelle auf der Welt, in die er Öl gießen kann. Jetzt zündelt er in Jerusalem und tut so, als wisse er nicht, dass der Nahe Osten jetzt schon ein flächendeckender Brandherd ist. Russland will zurück zur Großmacht, rettet den Diktator Assad  und baut eine neue Achse mit der Türkei. China reißt sich Afrika klammheimlich mit einer raffinierten Investitions-Politik unter den Nagel. Großbritannien setzt sich mit dem Brexit selber matt. Ost-Europa reanimiert den alten vergammelten Nationalismus aus dem vergangenen Jahrhundert, Spanien ist in Gefahr zu zerbrechen. Italien versinkt in Schulden und Unregierbarkeit. Afrika wird von Elend überschwemmt. Flüchtlingsströme verwandeln sich in Völkerwanderungen. Globale Kriege  um die knappen Rohstoffvorräte für moderne Technologien drohen . . .  und in Berlin sitzen Koalitions-Verhandler zusammen, als ginge es um die Routine-Reparatur eines alten Hauses. Während der Dachstuhl brennt, denken sie darüber nach, wie der Hausflur tapeziert  werden kann.

Die Antwort auf die Frage: Vorwärts nach Europa oder rückwärts in den Nationalstaat entscheidet über die Welt, in der unsere Kinder und Enkel leben werden. Die Nachkriegsgeneration war aus Erfahrung eines blutigen Nationalismus klüger geworden und riss Schlagbäume nieder und stürzte Grenzsteine um.

Europa ist eine Schicksalsfrage für das friedliche Zusammenleben

Der ehemalige Sozialminister Norbert Blüm besuchte im März 2016 das Flüchtlingslager in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien.
Der ehemalige Sozialminister Norbert Blüm besuchte im März 2016 das Flüchtlingslager in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien.

© DPA

Ist das alles vergessen? Ohne europäische Integration hätte es keine Wiedervereinigung gegeben. Unsere Nachbarn hatten nämlich noch die Erfahrung in den Knochen, die sie mit einem Deutschland gemacht hatten, an dessen „Wesen die Welt  genesen“ sollte. Ohne Europa würden wir nicht 72 Jahre Frieden in Europa genießen. Wann gab’s das schon einmal in Deutschland? In den 70 Jahren davor hatten wir drei Kriege mit Frankreich geführt.

Europa ist eine Schicksalsfrage für das friedliche  Zusammenleben, dem gegenüber andere Fragen zweitrangig sind.

CDU/CSU und SPD stimmen in der Europafrage mehr überein, als es die Partner einer möglichen Jamaika-Koalition gewesen wären. Das gelbe Gen hätte sich möglicherweise als ein störender europäischer Erbfaktor erwiesen. Denn die FDP wandert  anscheinend klammheimlich wieder zurück zu ihren alten national-liberalen Quellen. Mit diesen Liberalen ist offenbar kein „Vereintes Europa“ zu machen. Sie geraten  in Gefahr, zur bürgerlichen Variante der AfD zu degenerieren. Freilich seriös und frei von deren nazistischem Roll back.

Europa steht am Scheideweg. Zerfällt es in ein Kartell zur Förderung der nationalen Eigeninteressen, oder wird es ein globaler Ordnungsfaktor? Die Entscheidung lässt sich nicht vertagen. Sie fällt jetzt.

Wenn alle Staaten „First“ rufen, ist es wie im Fußballstadion.  Wenn einer sich vom Sitzplatz erhebt, um besser zu sehen, sieht er besser. Wenn jedoch alle sich erheben, hätte er auch sitzenbleiben können.  Wenn alle Exportweltmeister werden sollen, wird es keiner. Der neue Nationalismus ist die Renaissance des alten Egoismus, der davon ausgeht, dass, wenn jeder an sich denkt, auch an alle gedacht ist.

Im Zeitalter des globalen Finanzkapitalismus, des globalen Klimawandels und des internationalen Terrorismus sind die nationalstaatlichen Rettungsversuche vergleichbar dem Vorhaben in eiskaltem Meer mit einem Floß die Besatzung der untergehenden Titanic retten zu wollen.

Keine globale Herausforderung kann im nationalen Schrebergarten gelöst werden

Keine der großen globalen Herausforderung kann im nationalstaatlichen Schrebergarten gelöst werden. Müssen wir auf die Lehren der Vernunft warten, bis die Not uns die Einsicht lehrt.

Wir bedürfen eines Fanals, um aus unserer Wohlstandslethargie geweckt zu werden. Früher folgten Heere einer Fahne. Heute bedürfen wir einer Idee, für das sich die Bündelung all unserer Kräfte lohnt.

Jede erfolgreiche Koalition bedarf einer leitenden Idee, die ihren Zusammenhalt rechtfertigt. Machterwerb und –erhalt genügen nicht, um eine Regierung zu legitimieren.

Jede Zeit hat ihre Bewährungsprobe. Das parlamentarische  Übergewicht einer Großen Koalition rechtfertigt sich nur, wenn durch Regierungen mit gefestigter Mehrheit davor gefeit sind, bei jedem populistischen Hustenanfall sich eine Lungenentzündung zu holen.

Koalitionäre, verliert Euch nicht ins kleinzeilige Detail!

Eine Fahnenflucht vor den großen Herausforderungen ist Feigheit und Zuflucht zu Nebensächlichkeiten ist Dummheit. Unsere spezifischen parteipolitischen Liebhabereien verfallen angesichts des Zustandes der Welt zur Makulatur und taugen nicht einmal mehr zu Marginalien der Weltgeschichte.

Wenn der Himmel zusammenbricht, sind alle Katzen tot.

Frankreich und Deutschland müssen vereint der Vernunft den Weg bahnen in einer Welt, in der ein nationalistischer Virus grassiert. Ideen waren die historische Stärke des Abendlandes. Europa braucht wieder Leidenschaft für Ideen und Kühnheit für große Projekte. Es ist eine Lust, für große Ziele zu streiten.

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