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Norbert Blüm (Archivbild von 2008)

© dpa

Norbert Blüm zur Pflegeversicherungsreform: "Mich stört, dass alle nur auf die Kosten gucken"

Norbert Blüm gilt als Vater der Pflegeversicherung. Mit dem Tagesspiegel sprach der ehemalige Arbeitsminister über die anstehende Reform, den Sozialstaat und die "Aasgeier" der FDP.

Wie dringlich ist eine Reform der Pflegeversicherung?
Das Haus steht, das ist das Wichtigste. Aber es muss weiter daran gearbeitet werden. Reformen sind immer notwendig. Zumal wir mit der Pflegeversicherung vor über 15 Jahren Neuland betreten haben. So was gab’s ja vorher nicht, und entsprechend vorsichtig waren wir. Es liegt nahe, dass man aus Erfahrung klüger wird.

Wo ist man denn inzwischen klüger?

Wir waren bei der Definition von Pflegebedürftigkeit sehr zurückhaltend. Auf das weite Feld der nicht-körperlichen Defizite haben wir uns nicht vorgewagt. Doch mit der zunehmenden Zahl alter Menschen wächst das Problem. Es gibt immer mehr Demenzkranke, die müssen stärker berücksichtigt werden.

Die meisten wollen später mal nicht ins Heim. Hat man die ambulante Pflege zu stiefmütterlich behandelt?

Die Pflegeversicherung hat die Betreuung in den Familien erst ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Damit ist auch eine Infrastruktur entstanden, Tagespflegeplätze, ambulante und halbambulante Betreuung. Dieser Bereich ist noch immer unterentwickelt. Allein daheim oder ab ins Heim: Aus diesem Entweder-Oder müssen wir heraus. Dazu braucht es die ganze Kreativität der Gesellschaft.

Will die Politik nicht vor allem mehr ambulante Pflege, weil sie billiger ist?
Mich stört, dass alles nur unter Kostengesichtspunkten verhandelt wird. Beim Wort Reform denkt inzwischen jeder sofort ans Portemonnaie. Genauso naiv ist es aber zu glauben, dass es sich nur um eine wirkliche Reform handelt, wenn am Ende mehr Geld ausgegeben wird.

Wie kann die Politik pflegenden Angehörigen denn helfen? Mit der Aussicht auf höhere Renten? Oder einem Rechtsanspruch auf Pflegezeit und Kuren?

Vieles, was jetzt diskutiert wird, war von Anfang an drin in der Pflegeversicherung. Nur eben ganz bescheiden. Unfallversicherung, Urlaubsvertretung für privat Pflegende... Jetzt muss man sich ansehen: Was ist ausbaufähig? Und was brauchen wir weniger? Ich halte nichts davon, das Rad neu erfinden zu wollen.

Neu ist beispielsweise die Idee einer privaten Zusatzpflichtvorsorge.

Ich warne davor, die Rettung in der Kapitaldeckung zu suchen. Wer das vorschlägt, muss die letzten fünf Jahre in Alaska auf einem Eisberg gelebt und nichts mitbekommen haben. Weltweit sind die Kapitaldeckungssysteme im Eimer. Wir dürfen den Sozialstaat nicht der Finanzwirtschaft überlassen.

Im Koalitonsvertrag haben Union und FDP aber eine Ergänzung durch Kapitaldeckung vereinbart. War das falsch?

Ich bin nicht dogmatisch und per se gegen private Ergänzung. Unser Sozialstaat war nie ein Rundum-Versorgungsstaat. Die Pflegeversicherung schon gar nicht. Nur: Die Grundlage unseres Sozialstaats kann nicht die Kapitaldeckung sein. Weil man sonst in den Strudel der Spekulanten gerät. Wenn das Kapital der Angelpunkt ist, ist alles auf Gewinnmaximierung ausgerichtet. Wohin wir damit kommen, lässt sich grade besichtigen.

Ein Argument für den zusätzlichen Kapitalstock ist die Demografie. Wenn man rechtzeitig anspart, hat man mehr in Zeiten, wo es viele Pflegebedürftige gibt.

Ich bin auch gegen ein Umlagesystem, das mit ganz knapper Kasse fährt. Beiträge runter, Beiträge rauf, immer wieder vor der Tür stehen und betteln zu müssen...Dass man ein Polster bildet, ist sinnvoll und selbstverständlich.

Die Erfahrung zeigt, dass sich der Staat gerne an solchen Polstern vergreift. Privatisiert wären sie sicher, sagt die FDP.
Mit privaten Anlagen finanzieren wir die großen Fonds. Die beliefern die Hedgefonds, und die machen unsere Arbeitsplätze kaputt. Die Arbeitnehmer bezahlen ihre eigenen Metzger. Wollen wir das?

Würde es helfen, wenn sich die Arbeitgeber an dem Kapitalstock beteiligen?

Ich verteidige die Arbeitgeberbeiträge vor allem aus symbolisch-strategischen Gründen – um ihre Mitverantwortung für den Sozialstaat zu bewahren. Kostenmäßig wäre es egal. Wir könnten auch alle Arbeitgeberbeiträge abschaffen und sie beim Lohn draufschlagen.

In der Krankenversicherung wurden die Arbeitgeberbeiträge eingefroren...
Ja, für Kostendämpfung sind dort jetzt die Arbeitnehmer allein zuständig. Aber das ist ein Pyrrhussieg.

Warum?

In der Hast und Gier, Geld herauszuschlagen, übersehen Hundt und Genossen, was ihnen das am Ende bringt: deutlich härtere Tarifauseinandersetzungen. Die Arbeitnehmer werden sich das bei der nächsten Lohnrunde zurückholen. Ab sofort geht jede Beitragssteigerung in die Lohnverhandlungen ein. Da wünsche ich viel Vergnügen. Die Arbeitgeber-Strategen früherer Jahre hätten das vorausgesehen.

Zurück zur Pflege. FDP und CSU sind sich in einem einig: keine Beitragserhöhung. Sind die Menschen nicht bereit, für gute Absicherung mehr zu bezahlen?

Das sind sie zweifellos. Die Pflege ist die große soziale Herausforderung der Zukunft. Wir werden älter, es gibt immer mehr Demenzkranke. Hinzu kommt, dass Pflege in vielen Familien, wo die Mutter in Hamburg wohnt und die Tochter in München, nicht mehr geleistet werden kann. Das kostet mehr, ganz klar.

Manche glauben, man müsste das Geld nur anders verteilen.

Schon bei Einführung der Pflegeversicherung sind wir fest davon ausgegangen, dass es Ausgabensteigerungen geben wird. Es ist nur die Frage, wie man’s bezahlt. Und klar ist: Privat wird’s teurer. Siehe Riesterrente. Sechs Milliarden Euro hat die den Staat bereits gekostet.

Was muss die Pflegereform vor allem anpacken? Wo muss mehr Geld hin?

Ich würde mir wünschen, dass darüber weniger von oben herab entschieden wird. Es gibt ja nicht nur die Alternative Selbstverantwortung oder Staat. Wir könnten auch stärker auf unsere genossenschaftlichen Institutionen setzen. Die können dann auch unterschiedliche Wege gehen. In Berlin haben Pflegende ganz andere Bedürfnisse als in Großfamilien auf dem Land. Man müsste die Selbstverwaltung aber personell besser ausstaffieren. Bisher schicken die Verbände da ja eher ihre älteren Herrschaften hin.

Als Vater der Pflegeversicherung: Was hätten Sie aus heutiger Sicht anders gemacht?

Wir hätten von Beginn an eine regelmäßige Leistungsanpassung gebraucht, nach festen Kriterien wie bei der Rentenversicherung. Es ist nicht gut, wenn die Bedürftigen Jahr für Jahr erwartungsvoll nach Berlin blicken müssen, ob im Verteilungskampf zwischen Straßenbau, Rettungsschirmen und Kriminalitätsbekämpfung noch was für sie übrig bleibt.

Was ist für Sie gute Pflege? Wie möchten Sie selber einmal gepflegt werden?

Mit einem Maximum an Selbstaktivität. Ohne Bevormundung. Aber das hört sich schön an. Am Ende steht die Frage an den lieben Gott, welchen Sinn das Leiden hat. Da will ich keine Antworten von der Politik. Aber solche Fragen muss man zulassen. Und nicht denken, alles ließe sich mit Geld zuschütten. Gute Pflege beginnt immer beim Menschen.

Der verschwindet heutzutage oft hinter der Bürokratie...
Das hat mit der Verrechtlichung des sozialen Betriebes zu tun. Man muss sich absichern. Mir wäre es lieber, wir kämen mit weniger Kriterien aus. Aber wir mussten welche schaffen. Schließlich waren wir beim Start der Pflegeversicherung umgeben von Aasgeiern. Graf Lambsdorff und sein damaliger Sprecher Gudio Westerwelle: Die haben alles schon für tot erklärt, bevor es geboren war.
Heute ist die Partei derer, die Sie Aasgeier nennen, zuständig für Pflegepolitik.

Wenn sie es gut machen, habe ich nichts dagegen. Aber wenn ich der FDP einen Ratschlag geben könnte: Sie sollte sich mehr um diese Themen kümmern als um Steuersenkungen, die wir uns nicht leisten können. Vielleicht fehlen der FDP heute Politiker mit Herz und sozialer Kompetenz. Leute vom Schlage eines Dieter-Julius Cronenberg. Oder eines Hans- Dietrich Genscher. Der hat damals, jetzt kann ich’s ja verraten, in den FDP-Gremien Überzeugungsarbeit geleistet und war einer meiner verlässlichsten Mitstreiter im Kampf um die Pflegeversicherung.

Die Fragen stellte Rainer Woratschka.

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