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Norbert Lammert: "Die Demokratie hat einen Test bestanden"

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) über die Finanzkrise und ihre Folgen.

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Norbert Lammert kam 1948 als erstes von sieben Kindern in Bochum zur Welt. Er ist katholisch, seit 1971 verheiratet und hat vier Kinder.

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Sein Interesse an Politik wurde in der Schule und im Elternhaus geweckt. Zeitweise saß er mit Vater Ferdinand im Bochumer Stadtrat.

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Lammert trat 1964 in die Junge Union und 1966 in die CDU ein. Seit 1980 gehört der Doktor der Sozialwissenschaften dem Bundestag an, seit 1986 ist er Bezirksvorsitzender der CDU Ruhr. Seit Oktober 2005 ist Lammert Präsident des Deutschen Bundestages.

Herr Lammert, entscheidet sich in der Finanzkrise die Zukunft der Demokratie?

Das scheint mir übertrieben. Richtig ist aber, dass ein Zusammenbruch der Finanzsysteme die Akzeptanz demokratischer Institutionen schwer in Mitleidenschaft gezogen hätte. Immer wenn Menschen ihre Existenz gefährdet sehen, ist die Erwartungshaltung an den Staat, das Parlament und die Parteien besonders hoch. Insofern hat die Demokratie in der Krise einen wichtigen Test bestanden, indem sie ihre Fähigkeit zu schnellem gemeinschaftlichem Handeln unter Beweis gestellt hat. Ob die Finanzkrise mit den internationalen Rettungsmaßnahmen und -pakten aber auf Dauer gebannt ist, werden wir sehen.

Konnte der Bundestag bei der Blitz-Verabschiedung des Rettungspaketes seine Kontrollfunktion hinreichend ausüben?

Das Parlament hat seine Rechte wahrgenommen und behauptet. Als die Bundeskanzlerin sich an mich gewandt hat, war auf beiden Seiten kein Zweifel an der Ernsthaftigkeit der jeweiligen Anliegen. Auf dieser Grundlage waren wir uns dann relativ schnell einig über das Verfahren. Dabei war immer klar: Die außergewöhnlich schnelle Beratung und Entscheidung im Bundestag war nur möglich, weil alle Fraktionen dem zugestimmt haben.

Viele Menschen haben in den letzten Jahren auch deshalb an der Demokratie gezweifelt, weil sie die Politik gegenüber den Märkten als ohnmächtig erlebt haben. Zu Recht?

Wir haben in der Tat eine Phase hoffentlich hinter uns, die durch die Dominanz des Ökonomischen geprägt war, während die Hebelwirkung des Politischen immer schwächer wurde. Der Primat der Politik ging in Zeiten der Globalisierung immer weiter zurück. Natürlich hat das die Wahrnehmung von Politik geprägt und auch ihrer Akzeptanz geschadet.

Hat die Politik ihren Führungsanspruch zu leichtfertig aufgegeben oder wurde sie Opfer einer unvermeidlichen Entwicklung?

Ein Teil der Entwicklung war vermeidbar, ein anderer nicht. Ralf Dahrendorf hat bereits vor zehn Jahren die Sorge geäußert, in Zeiten der Globalisierung könne der Nationalstaat obsolet werden – und damit den historisch bisher einzigen Rahmen, der politische Partizipation und die Wahrnehmung von Grundrechten möglich macht. Diese Sorge hatte ich nie. In Zeiten der Globalisierung ist die Nationalökonomie obsolet geworden, nicht aber der Nationalstaat. Zu den unvermeidlichen Entwicklungen gehört, dass die Nationalstaaten unter den Bedingungen der Globalisierung erheblich an Entscheidungssouveränität verloren haben. Die Nationalstaaten hätten aber gemeinsam durchaus Regeln für die internationalen Finanzmärkte setzen können. Spätestens beim G-8-Gipfel in Heiligendamm wurde unter deutscher Präsidentschaft der förmliche Versuch unternommen, die führenden Wirtschaftsnationen zur Mindestregulierung der Finanzmärkte zu bewegen, was damals vor allem am Widerstand der Amerikaner wie der Briten gescheitert ist.

Werden wir eine Renaissance des Politischen erleben?

Ich denke schon. Es liegt in der Natur der Sache, dass Wettbewerbssysteme, deren Überlegenheit ja kein ernst zu nehmender Mensch bestreitet, nur funktionieren können, wenn es ein Mindestmaß an Regulierung gibt. Dieser notwendigerweise staatlichen Regulierung einer Sozialen Marktwirtschaft haben sich die Finanzmärkte in den vergangenen Jahren immer mehr entzogen.

Es gab viele Warnungen vor der Finanzkrise, nicht nur auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm. Warum wurden sie nicht gehört?

Weil es über etliche Jahre hinweg viele Nutznießer und wenige Opfer gab. Zu den Nutznießern gehörten unter anderen auch die Finanzminister der Staaten mit den stärksten Börsenplätzen. Deshalb war der Widerstand Großbritanniens und der USA gegen jede denkbare Regulierung so groß. Man kann aber auch nicht sagen, dass es aus der deutschen Finanzwelt eine große Erwartung an die Politik gegeben hätte, diese Entwicklung zu stoppen. Nun aber rufen all jene, die den Staat mit geradezu missionarischem Eifer aus allen Finanzaktivitäten heraushalten wollten, nach staatlicher Hilfe.

Ist es nicht so, dass eine Ideologie der Entstaatlichung und Deregulierung die Entwicklung befördert hat?

Was die Neigung zur Entfesselung des Wettbewerbs und des Kapitalismus angeht, hatten wir in allen westlichen Systemen einen Trend, der sich von sozialstaatlichen Regulierungen immer mehr entfernte. Die Freisetzung von Eigendynamik wurde begünstigt. In Deutschland war das zwar zu keinem Zeitpunkt so ausgeprägt wie in den angelsächsischen Ländern. Trotzdem hat dieser Trend auch in Deutschland seine Spuren hinterlassen.

Besteht die Gefahr, dass das Pendel nun in die andere Richtung ausschlägt?

Übertreibungen sind immer falsch. Und Demokratien müssen immer wieder der Versuchung widerstehen, von einem Extrem ins andere zu verfallen. Deshalb lohnt der Blick in die Geschichte. Wir hatten eine Phase in den 60er und 70er Jahren, in denen der Versuch, den Sozialstaat zu perfektionieren, zu einer Fesselung der Wettbewerbsdynamik geführt hat. Es war ein leichtfertiger, manchmal mutwilliger Verzicht auf Wachstumsperspektiven. Dann aber schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Es dominierte bei vielen in Politik und Wirtschaft die Vorstellung, die völlige Freisetzung der Wettbewerbsmechanismen bringe die Lösung aller Probleme.

Ist die CDU mit der Entfesselung des Wettbewerbs zu weit gegangen, als sie beim Leipziger Parteitag 2004 auf radikale Reformen gesetzt hat?

An der Abfolge von Parteitagen, auch denen der CDU, kann man diese Entwicklung des Zeitgeistes gut nachvollziehen. Den extremen Ehrgeiz, beim Steuer- und Gesundheitssystem gleichzeitig die Revolution auszurufen, habe ich schon deshalb nicht ganz nachvollziehen können. Selbstkritisch muss ich sagen: Für sich gesehen habe ich beide Reformen für richtig gehalten. Aber die Frage war nicht überzeugend beantwortet, ob sich diese beiden Reformen wechselseitig ertragen.

Sind Volksparteien wie die CDU überhaupt imstande, solche Entwicklungen ehrlich zu analysieren?

Sie können es jedenfalls immer noch besser als fast alle anderen politischen Akteure. Die Neigung zum Kurzfristdenken ist bei fast allen anderen politischen Akteuren noch ausgeprägter. Verbände oder Medien müssen sich nicht ständig um die Erneuerung ihrer Legitimation bemühen, können viel stärker aktuelle Interessen oder Einsichten verfolgen und müssen sich selbst folglich weniger Rechenschaft ablegen als die Parteien.

Und die Wirtschaft, die Banker?

Es ist doch bemerkenswert, dass manche Leute, die früher sehr selbstbewusst aufgetreten waren, jetzt erkennbar kleinlaut geworden sind.

Welche Folgen wird diese Krise auf die Akzeptanz von Reformpolitik haben?

Wenn die Stabilisierung der Finanzmärkte und ein Mindestmaß internationaler Kontrolle gelingen, dann bestehen gute Aussichten auf Wiederherstellung der Reputation und der Überzeugungskraft von Politik. Ich habe den Eindruck, dass es jetzt wirklich den breiten politischen Willen gibt, die Finanzmärkte national und international zu regulieren. Vielleicht muss man sogar ein Übermaß befürchten: Nachdem wir jahrelang resigniert haben gegenüber der Verselbständigung der Finanzwirtschaft, wird jetzt über die Verstaatlichung ganzer Industrien diskutiert, als könnten wir das Rad 30 Jahre hinter die Globalisierung zurückdrehen.

Sie sprechen von Frankreichs Staatspräsident Sarkozy.

Bei Kapitalbeteiligungen des Staates an Banken habe ich hingegen keine Bedenken. Wenn der Staat ins Risiko gehen muss, weil anders keine Stabilisierung herzustellen ist, dann soll der Staat sich auch nicht neutraler oder unbeteiligter verhalten als er wirklich ist. Da habe ich keine Berührungsängste, während die großflächige Aufforderung zur Verstaatlichung von Schlüsselindustrien doch die Übertreibung in die andere Richtung ist.

Welche Chancen ergeben sich für Europa aus der Krise?

Wenn, wie geschehen, die bei ihren Bürgern nicht gerade stürmisch geliebte EU in dieser Krise zeigt, dass eine gemeinsame Lösung möglich ist, dann kann das die Akzeptanz und Reputation von Politik im Allgemeinen und der europäischen Gemeinschaft im Besonderen steigern. Ich weiß allerdings, dass ich hier Vermutungen mit Hoffnungen verbinde.

Welche Folgen hat die Krise für die Volksparteien? Spielt die Entwicklung der SPD eher in die Hände, während sie für die Union komplizierter ist?

In beiden Volksparteien hat diese Krise zu einer neuen Betrachtung der Welt geführt, zu neuen Einstellungen. Sie sind nicht identisch, aber ähnlich. In beiden Lagern gibt es eine durch die Ereignisse erzwungene Neubesinnung auf Prinzipien und Ideen, die das Weltbild von CDU oder SPD seit ihrer Gründung geprägt haben. In der Union würde heute eine Hommage auf eine möglichst unregulierte Wettbewerbsordnung nicht mehr in die Nähe der Mehrheitsfähigkeit kommen. Es wird eher die Wahrnehmung geben, dass eine sozialstaatlich gebändigte Wettbewerbsordnung gerade auf die globalisierte Weltwirtschaft die vernünftige und lebensnahe Antwort ist. Allerdings: Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft ist in einer Zeit entstanden, als es um den Wiederaufbau eines Landes ging und von Globalisierung keine Rede war. Wir brauchen also mehr als den Rückgriff auf den Fundus.

Friedrich Merz wirft Ihrer Partei in diesen Tagen vor, sie laufe dem Zeitgeist hinterher. Gibt es nicht auch starke Kräfte in der CDU, die bei den alten Übertreibungen bleiben?

Ja, und ich finde auch richtig, dass dieser Streit stattfindet. Denn wenn es nicht so wäre, könnten die Parteien ihre schwer ersetzbare Funktion der Problemverarbeitung kaum leisten. Stellen Sie sich vor, dass einschneidende Erfahrungen jeweils schlagartig in eine völlige Kehrtwende einer ganzen Partei oder gar aller Parteien zugleich münden würden. Es muss immer kritische Stimmen und Kräfte geben, die schon wollen, was andere noch nicht wollen oder nicht mehr befürworten, woran andere festhalten. Aus dieser produktiven, manchmal ziemlich anstrengenden Auseinandersetzung entsteht eine Linie mit Augenmaß, die Übertreibungen in beiden Richtungen widersteht.

Genügt der Union für den Wahlkampf eine personelle Aufstellung, bei der die Bundeskanzlerin einsam an der Spitze steht?

In Deutschland sind Bundestagswahlen spätestens seit den 1960er Jahren eindeutig Kanzlerwahlkämpfe. Die Union wäre von allen guten Geistern verlassen, wenn sie die überragende Reputation der Kanzlerin, die höher ist als die der Parteien, nicht voll ausreizen würde.

Das Gespräch führten Tissy Bruns und Stephan Haselberger. Das Foto machte Mike Wolff.

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