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Politik: Normalität – eine kaukasische Fiktion

Mit dem Bombenanschlag von Grosny ist der fragile Frieden in Tschetschenien dahin. Auch ein Bürgerkrieg ist nicht ausgeschlossen

Die Feiern zum 59. Jahrestag des Sieges der Sowjetarmee im Großen Vaterländischen Krieg fanden ein blutiges Ende. Gegen 10 Uhr 35 Ortszeit, als in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny die Führung der Republik und hohe russische Militärs einem Festkonzert im Dynamo-Stadion beiwohnten, detonierte unter der Tribüne eine Bombe. Von bis zu 24 Toten war die Rede, darunter auch Präsident Achmad Kadyrow, der mehrere Attentate zuvor überlebt hatte, und andere Offizielle. Für Moskau ist es eine der bisher schlimmsten Niederlagen in der Rebellenrepublik, die sich im Herbst 1991 von Russland losgesagt hat.

Der Anschlag, zwei Tage nach Putins neuerlicher Thronbesteigung, macht dem Herrn des Kremls mit aller Deutlichkeit klar, dass ihn ähnliche Herausforderungen bis ans Ende seiner Regierungszeit 2008 verfolgen könnten. Dies umso mehr, als Kritiker im In- und Ausland seit jeher große Mühe haben, den bald zehnjährigen Krieg als russischen Beitrag zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus einzuordnen. In ihren Augen läuft in Tschetschenien ein Scheinfriedensprozess ab, bei dem die Separatisten außen vor bleiben.

Sowohl beim umstrittenen Referendum über die neue Verfassung im März 2003 als auch bei den umstrittenen Wahlen im Oktober stand und fiel das vom Kreml gewünschte Ergebnis mit der Person Kadyrows, der sich mit ausdrücklicher Billigung Moskaus und anfechtbaren Methoden beide Male weit über 90 Prozent aller Stimmen bescheinigte. Sein Tod reißt daher die Fiktion von der Rückkehr Tschetscheniens zur Normalität definitiv ein. Und die Suche nach einem gleichwertigen Nachfolger dürfte sich für Moskauer Polittechnologen zur Quadratur des Kreises auswachsen.

Kandidaten wie der Duma-Abgeordnete Aslanbek Aslachanow oder Russlands Ex-Parlamentschef Ruslan Chasbulatow, ein gebürtiger Tschetschene, scheiden aus, weil sie in der Republik erhebliche Sympathien genießen und von Moskau daher nur bedingt steuerbar sind. Auf der Suche nach einem Reichsverweser, der ohne eigene Hausmacht und somit zur Loyalität verdammt wäre, stößt die Zentrale in Moskau stets ebenso schnell auf Grenzen. Das bewiesen nicht nur die Wahlen in anderen nordkaukasischen Teilrepubliken, wo der Konflikt Tschetscheniens mit dem Kreml zwar in deutlich abgeschwächter Form existiert, aber die gleichen Wurzeln hat. Auch Kadyrow selbst, der als Mufti während des ersten Tschetschenienfeldzugs Mitte der 90er zum Heiligen Krieg gegen Moskau aufgerufen hatte, war für Moskau von Anfang an nur das geringste aller möglichen Übel – damals, im Sommer 1996, als Jelzin Tschetschenien de facto in die Unabhängigkeit entlassen musste. Kadyrow zählte zu den Verhandlungsführern der Separatisten und wechselte die Fronten erst nach dem Zerwürfnis mit dem 1997 gewählten Präsidenten Aslan Maschadow.

Seine Grenzen erfährt Moskau aber auch in Kadyrows Leibgarde, die sich, von dessen Sohn Ramzan befehligt und von der Bevölkerung noch mehr gefürchtet als Russlands Soldaten, zu einer Privatarmee gemausert hat, die es zahlenmäßig längst mit den Separatisten aufnehmen kann. Ein realer Machtfaktor, an dem auch Kadyrows Nachfolger nicht vorbeikommt. Dann aber drohen Zustände wie in Afghanistan Anfang der 90er Jahre, ein Bürgerkrieg. Mit Folgen für die gesamte, vor Waffen starrende Region.

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