zum Hauptinhalt
Enrico Pieri - hier Anfang 2013 in Stuttgart - verlor beim Massaker in Sant'Anna seine ganze Familie.

© dpa

NS-Verbrechen: Doch noch Prozess um Massaker von Sant'Anna?

Vor 70 Jahren ermordete die SS in Sant'Anna di Stazzema in der Toskana 560 Menschen. In dieser Woche wurde der Weg frei für die Anklage gegen wenigstens einen der mutmaßlich Verantwortlichen. Hamburgs Justiz will jetzt rasch entscheiden.

Fast 70 Jahre nach einem SS-Massaker in der Toskana mit Hunderten Toten kommt es womöglich doch zum Prozess: Am Dienstag hat das Oberlandesgericht (OLG) in Karlsruhe entschieden, dass gegen einen der vier Beteiligten Anklage erhoben werden kann. Die Ermittlungen gegen ihn und drei weitere Beschuldigte waren 2012 eingestellt worden. Den Versuch der Hinterbliebenen - darunter der heute 80-jährige Enrico Pieri, der in dem Gemetzel Eltern, Großeltern und beide Schwestern verlor - eine Anklage zu erzwingen, wies das OLG letztes Jahr für drei von ihnen ab. Jetzt gab es ihnen im Fall des 93-jährigen Gerhard Sommer Recht: Für ihn bestehe „hinreichender Tatverdacht“, seine Verurteilung wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord sei wahrscheinlich. Dass Sommer nicht verhandlungsfähig sei, habe sich entgegen einem früheren gerichtsmedizinischen Gutachten zudem „nicht bestätigt". .

Das jüngste Opfer war drei Monate alt

Die Taten, die ihm vorgeworfen werden, liegen in wenigen Tagen 70 Jahre zurück: Am 12. August 1944 fiel eine SS-Panzergrenadierkompanie im Rahmen einer sogenannten „Säuberungsaktion“ gegen Partisanen im Dorf Sant’Anna di Stazzema in der Provinz Lucca ein. Die SS-Leute trieben die Bewohner, unter ihnen auch viele Flüchtlinge aus anderen Teilen der Gemeinde Stazzema, auf einen ummauerten Platz vor der Kirche, schossen und warfen Handgranaten auf sie. 560 Menschen starben. Weil auch Flammenwerfer eingesetzt wurden, schreibt der Freiburger  Militärhistoriker Gerhard Schreiber, der die deutschen Kriegsverbrechen in Italien als erster aufarbeitete, waren viele später nicht zu identifizieren. Man geht inzwischen von mindestens 107 ermordeten Kindern aus. „Das jüngste Opfer“ schreibt Schreiber, „zählte drei Monate, das älteste 86 Jahre“. SS-Sturmbannführer Walter Reder meldete später an die militärische Führung, man habe „270 Banditen niedergemacht".

"Von vornherein auf Vernichtung gerichtet"

Der in Hamburg lebende Gerhard Sommer war nach Überzeugung des OLG Karlsruhe zur Tatzeit „mit hinreichender Wahrscheinlichkeit  Führer der beteiligten SS-Kompanie und damit verantwortlich für das Massaker. „Insbesondere bestehen nach Ansicht des Senats keine vernünftigen Zweifel, dass die Befehle und die Einsatzplanung, die dem Beschuldigten als kommandierendem Offizier bekannt waren, nicht auf die Partisanenbekämpfung beschränkt, sondern von vornherein auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung von Sant‘Anna di Stazzema gerichtet waren“, heißt es im Beschluss aus Karlsruhe – eine klare Rüge an die Staatsanwälte, die ihren Einstellungsbeschluss damit begründet hatten, es sei nicht klar, ob das Massaker an Frauen, Kindern und Alten „eine von vornherein geplante und befohlene Vernichtungsaktion gegen die Zivilbevölkerung“ gewesen oder ob es nicht „ursprünglich“ um Partisanenbekämpfung gegangen sei.

Hamburgs Staatsanwaltschaft sieht "besondere Priorität"

Sommer, der seit Jahrzehnten unbehelligt in Hamburg-Volksdorf lebt, war bereits 2005 mit neun weiteren Angeklagten in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt worden, wurde aber als Deutscher nicht ausgeliefert. Die deutschen Ermittlungen gegen ihn und 16 andere Beschuldigte hatten 2002 begonnen. Nach dem Beschluss des OLG Karlsruhe ist es jetzt an der Hamburger Justiz, über ein Verfahren gegen ihn zu entscheiden. Das will sie rasch tun. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte dem Tagesspiegel, der Fall habe schon wegen des Alters des Beschuldigten „besondere Priorität“. „Natürlich“ werde auch die Bewertung des Falls durch das OLG Karlsruhe berücksichtigt.

Zur Startseite