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Aufbrausend und berechnend - so beschreibt ein Zeuge im NSU-Prozess den späteren Terroristen Uwe Böhnhardt (mitte.)

© dpa

NSU-Prozess 141. Tag: Ein gruseliges Bild mentaler Verwahrlosung

Ein Zeuge im NSU-Prozess erzählt von wilden Jugendgang-Zeiten im Jenaer Milieu Anfang der Neunziger - und seinen Begegnungen mit dem späteren NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt.

Von Frank Jansen

Der große, schwere Mann schlurft in den Gerichtssaal und redet mit klagender Stimme. Er ist erst 37 und sieht deutlich älter aus, derzeit unterzieht er sich der Behandlung in einer Suchtklinik. Möglicherweise sind das die Spätfolgen einer brachialen Jugend. Was der Zeuge am Montag im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München berichtet, erschreckt. Die Aussage zeichnet ein gruseliges Bild von der mentalen Verwahrlosung junger Ostdeutscher in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung.

„Wir waren ’ne Clique“, sagt der Mann, „wir haben gemeinsam verschiedene Straftaten begangen, Autodiebstähle, Einbrüche“. Der Zeuge hatte sich im Jenaer Plattenbauviertel Winzerla einer trinkenden, prügelnden, autoknackenden Jugendgang angeschlossen, die in engem Kontakt zu einem ähnlichen Trupp im Stadtteil Lobeda stand. „Wenn ich nachts nach Lobeda gegangen bin und sah ein Auto, das mir gefiel, habe ich es genommen, fertig“, sagt er. Und er berichtet von illegalen Rennen.

Kriminalität, Alkohol, Gewalt waren die Koordinaten im Leben des Zeugen und weiterer junger Männer, die für den NSU-Prozess von besonderer Bedeutung sind. Einer der Kumpel aus Lobeda war damals Uwe Böhnhardt, der später zum rechtsextremen Terroristen und Mörder mutierte. Böhnhardt erschoss von 2000 bis 2007 zusammen mit Uwe Mundlos neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft sowie eine deutsche Polizistin. Die Zeit in der Gang Anfang der 1990er Jahre, so scheint es, hat Böhnhardt auf fatale Weise geprägt.

Böhnhardt war ein "ziemlich lustiger Typ, aber gefährlich in seiner Art"

„Der Uwe“, sagt der Zeuge, sei im Unterschied zu ihm beim Autoknacken „gut durchdacht“ vorgegangen. Böhnhardt habe überlegt, „wie ist das Zeitfenster, was geht, damit er nicht überrascht werden kann“. Offenbar war Böhnhardt kaltblütiger, er agierte weniger spontan als der Zeuge und die anderen Mitglieder der zwei Jenaer Cliquen. „Ich hatte das Gefühl, der Uwe hat nichts gemacht, ohne es vorher vernünftig geplant zu haben“, erinnert sich der Zeuge.   Bei den Morden, die Böhnhardt und Mundlos als NSU-Terroristen verübten, war es wohl ähnlich. Die beiden Neonazis spähten ihre Opfer aus und richteten sie dann blitzschnell mit gezielten Schüssen hin.

Der Zeuge hatte damals in der Jugendclique Angst vor Böhnhardt. Der sei zwar „ein ziemlich lustiger Typ“ gewesen, „aber er war gefährlich in seiner Art, wenn er wirklich sauer geworden ist“. Wenn  Böhnhardt etwas nicht passte, „dann hat er zugeschlagen, rumgebrüllt“. Der Zeuge sagt, er selbst habe sich zuletzt von Böhnhardt „ziemlich weit abgesondert“. Zumal Böhnhardt als rechter Skinhead auftrat. Der Zeuge hingegen wollte sich, so erzählt er es zumindest am Montag, nicht politisch festlegen. Autos und Motorräder seien für ihn wichtiger gewesen.

Eine weitere Figur aus der Jenaer Doppelclique war Enrico T. Ihn verdächtigt die Bundesanwaltschaft, er sei an der Beschaffung der Pistole Ceska 83 beteiligt gewesen. Mit der Waffe töteten Böhnhardt und Mundlos die neun Migranten. Damals in Jena sei ihm Enrico T. merkwürdig vorgekommen, sagt der Zeuge, „seine Art war so schleimig, übernett, überfreundlich“. Und er habe bei ihm Waffen gesehen, „da lagen Revolver“ auf einem Tisch, zwei oder drei Stück.

Unklarheit im fall des Kindsmords von 2012

Als der Vorsitzende Richter Manfred Götzl beim Thema Waffen nachhakt, wird der Zeuge wortkarg. Obwohl oder gerade weil er 2012 dem Bundeskriminalamt sagte, Zugang zu Waffen habe damals in Jena auch Jürgen L. gehabt. Die Bundesanwaltschaft verdächtigt Jürgen L., er sei Anfang 2000 ebenfalls einer der Mittelsmänner auf dem langen Weg der Ceska 83 von der Schweiz zum NSU gewesen. Was Jürgen L. im Prozess bestritten hat.

Richter Götzl befragt den Zeugen auch zu einem Verbrechen an einem Kind. Die Polizei fand 1993 nahe der Saale die Leiche eines neunjährigen Jungen aus Jena. Der Täter wurde nie ermittelt. Bei einer Vernehmung nannte der Zeuge allerdings Enrico T. als möglichen Tatverdächtigen. Enrico T. „hatte die komische Art, dass er mit jungen Kindern mehr Kontakt hatte“, erzählte er einem Beamten. Konkret wusste der Zeuge aber offenbar nichts.

Eigenartig ist jedoch, dass Enrico T. von sich aus im April 2012 der Polizei auch von dem Fall berichtete, obwohl die Beamten ihn nur zur Ceska 83 befragt hatten. Und Enrico T. nannte als möglichen Kindsmörder Uwe Böhnhardt. Der war im April 2012 schon ein halbes Jahr tot. Im November 2011 hatte die Polizei die Leichen von Böhnhardt und Mundlos in einem brennenden Wohnmobil in Eisenach gefunden, nach dem letzten Raubüberfall des NSU. Wollte Enrico T. etwa bei der Polizei im Fall des 1993 ermordeten Jungen den Verdacht auf den verstorbenen Böhnhardt lenken, von dem kein Widerspruch mehr kommen konnte?

Eine traurige Milieugeschichte

Auch wenn das Kind lange vor dem Beginn des NSU-Terrors getötet wurde, verstärkt auch diese Geschichte am Montag noch den Grusel bei der Aussage des Zeugen. Der selbst offenbar auch nicht nur Autos knackte, sondern bei Gelegenheit mal mit einer scharfen Waffe ballerte. Doch für das Milieu der Jenaer Jungkriminellen war der Zeuge nicht hart genug. Ein „Großer“ habe ihn in einem Hof „zusammengedroschen ohne Ende“, sagt er. Und ein illegales Autorennen hätte er beinahe nicht überlebt. Im Alter von 15 Jahren.

Bei einem schweren Unfall habe er 1992 einen Schädelbasisbruch und ein Hirntrauma erlitten, sagt der Zeuge. Als er im Krankenhaus lag, habe die Polizei ihn schützen müssen. Vor den  Autoknackercliquen, die offenbar befürchteten, er werde auspacken. Seine Familie habe dann herumerzählt, er sei an den Folgen des Unfalls gestorben. „Das war eine schwierige Zeit“, sagt der Zeuge. Vielleicht hat er sich bis heute nicht davon erholt. Der Mann war bereits im Juli im NSU-Prozess vorgeladen. Er kam nicht und teilte mit, ihm sei auf der Fahrt nach München schwindlig geworden. Er habe umkehren müssen, um was zu trinken. Und in wenigen Tagen beginne seine Therapie.

Sie ist wohl noch im Gange. Auch wenn die wilden Jahre nach der Wiedervereinigung lange her sind, hat der Zeuge offenbar bis heute sein Leben nicht in den Griff bekommen. Eine traurige Milieugeschichte mehr im monströs trüben NSU-Komplex.

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