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Die eigenen Väter repräsentieren und erzählen, wie sie waren, war eines der Hauptmotive für die Töchter Gamze Kubasik (l.) und Semiya Simsek, bei der Gedenkfeier im Konzerthaus zu reden. Jetzt zweifeln sie, ob der Staat die versprochene Aufklärung bieten kann. Foto: dapd

© dapd

NSU-Terrorismus: Angehörige der Opfer verlieren das Vertrauen in den Staat

Nach zehn Morden und Anschlägen der rechtsextremen Terrorzelle NSU, werden öffentlichkeitswirksam Untersuchungsausschüsse gebildet. Doch fernab der Öffentlichkeit müssen die Opferfamilien Trauer und Schmerz aushalten.

Der Alltag ist nur eine Fassade, dahinter lauert Schmerz. Deutschland beobachtet mit zunehmender Distanz die Ermittlungen und die sich hinziehenden Aufklärungsversuche zur Neonazi-Mordserie. Die Öffentlichkeit sieht, wie unzählige Untersuchungsausschüsse gebildet worden sind, in denen Vertreter der Sicherheitsbehörden nach Worten ringen, um zu erklären, wie es geschehen konnte, dass eine selbsternannte rechtsextreme Terrorzelle zehn Morde, Banküberfälle und Sprengstoffanschläge verüben konnte. Das Leben der anderen aber, der Opfer und Angehörigen, geht derweil jenseits der öffentlichen Wahrnehmung weiter.

Es ist kein normales Leben mehr, denn der Schmerz lässt sich nicht permanent unterdrücken.

Vor kurzem erst konnte sich Elif Kubasik mal wieder nicht gegen dieses tief in ihr verankerte Gefühl wehren. Als eine Gedenktafel zur Erinnerung an ihren Mann vor ihrem alten Kiosk in Dortmund aufgestellt wurde, in dem Mehmet Kubasik am 4. Juni 2006 erschossen wurde, kam alles in ihr so abrupt hoch wie bei einem mächtigen Vulkanausbruch. Sie schrie, weinte, und der Schmerz war so groß, dass man ihn nicht in Worte fassen kann.

Ihre Tochter, Gamze Kubasik, 26, fällt es deshalb schwer zu sagen, wie sie sich fühlt. „Es geht so“, sagt sie, denn sie will nicht wehleidig klingen. Dann erzählt sie am Telefon, wie es ihr ergangen ist, seit der offiziellen Gedenkfeier für die Opfer der rechtsextremistischen Gewalt am 23. Februar im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Damals war sie gemeinsam mit Semiya Simsek, Tochter des ersten Mordopfers Enver, vor 1200 Gästen auf die nur mit Kerzen erleuchtete Bühne gestiegen und hatte ein Gedicht des türkischen Dramatikers Nazim Hikmet vorgetragen. „Leben wie ein Baum, einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.“

Es war ein sehr wichtiger Moment für Gamze Kubasik und ihre Familie, der Mutter und die beiden Brüder, die heute 12 und 17 Jahre alt sind. Es war ein Augenblick, der sich anfühlte wie Versöhnung. Denn lange Jahre standen die meisten Familien unter falschem Verdacht, lebten wie Ausgestoßene. Sie sagt: „Damals haben wir gedacht. Endlich hört uns jemand zu, endlich können wir erzählen, wie es uns ergangen ist.“ Man habe ihnen damals sehr viel versprochen, „auch Bundeskanzlerin Merkel, und wir haben es geglaubt“. Aber nun dauern die Ermittlungen noch immer an, Aufklärung ist bisher ein Wunsch geblieben. Und Gamze Kubasik und ihre Familie sind schon wieder in der Situation, ihr Vertrauen in den Staat zu verlieren, wie damals, viele Jahre lang, als man ihnen nicht glaubte. Sie habe nun wieder das Gefühl, die Aufklärung komme nicht voran. „Wir fühlen uns deshalb hintergangen und ich bin wütend und traurig zugleich“, sagt sie.

Gamze Kubasik, die bald ihre Ausbildung zur Pharmazeutisch-Technischen Angestellten abgeschlossen haben wird, ist in Kontakt mit anderen Opferfamilien. Die meisten haben beschlossen, konsequent die Öffentlichkeit zu meiden, manche aus Angst, viele, um den Schmerz unter Kontrolle zu halten. Einer von ihnen ist Ismail Yozgat, dessen Sohn Halit am 6. April 2006 in Kassel in ihrem kleinen Internet-Café erschossen wurde. Der Vater hatte sich leicht verspätet, wollte den Sohn ablösen, er lag hinter dem Tresen in seinem Blut. Er lebte noch und starb dann in den Armen des Vaters. Auch Yozgat hat öffentlich geredet, ist im Konzerthaus aufgetreten, aber wenn man ihn heute fragt, bittet er um Verständnis und sagt: „Immer, wenn ich darüber rede, bin ich danach drei Tage krank.“ Bis heute hat Yozgat keinen Cent an Opferentschädigung annehmen wollen. Er sagt, er wolle nur vollständige Aufklärung.

In vielen Familien gibt es Angehörige, die krank geworden sind, bis heute seelisch und körperlich leiden. Kaum jemand redet darüber. Die Familie von Mehmet Turgut, erschossen am 25. Februar 2004 in Rostock, lebt in der Türkei. Sie ist bitterarm. Der Vater kann bis heute nicht verstehen, was mit seinem Sohn passiert ist. Die Frage nach dem „warum“ stellen alle, obwohl sie wissen, dass es keine befriedigende Antwort gibt.

Auch Kerim Simsek war, ähnlich wie Gamze Kubasik, sehr irritiert, als er etwa davon erfuhr, dass sogar Akten geschreddert worden sind. Er rief seinen Anwalt Stephan Lucas an. Auch wenn man es sich nicht vorstellen kann – emotional war das ein „riesiger Schlag“, wie Kerim, 25, Student der Medizintechnik, sagt. Weil auch in ihm alte Zweifel hochkamen. Er will, wie fast alle anderen, verstehen, „was mit uns gemacht wurde“, warum seine Familie unter Verdacht geriet.

Nun ist Simsek wie auch andere ungeduldig geworden. Er sagt: „Wir wollen, dass es jetzt endlich zum Prozess kommt. Unser Wunsch nach vollständiger Aufklärung wird erst durch einen Richterspruch Geltung erlangen.“ Sein Anwalt fügt hinzu: „Wenn die Ermittlungen und der Prozess abgeschlossen sind, dann sollte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nochmals Stellung beziehen, um ihre Worte der Entschuldigung mit Inhalt zu füllen. Das erwarten die Angehörigen.“

Das Leben für rund 70 Opferangehörige geht weiter. Ein Leben, das nie mehr so sein wird, wie es einmal war.

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