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Politik: Ölpreis: 1400 Kilometer Wut

Eine Bockwurst. Einfach nur eine richtig gute Bockwurst.

Eine Bockwurst. Einfach nur eine richtig gute Bockwurst. Genau auf den Punkt sollte sie sein, nicht zu lange im Wasser gewesen, damit sie ihren Geschmack noch behält. Sie muss beim Hineinbeißen knacken, und dann soll sie ganz langsam und zart auf der Zunge zergehen. Ein bisschen Ketchup dazu oder Senf, natürlich auch eine Schrippe. Und noch einen Kaffee.

Es ist Montagabend kurz nach neun. Seit gut sieben Stunden ist Mario Gruhn schon unterwegs. Gegen zwei war er in Berlin endlich vom Firmenparkplatz weggekommen, zum ersten Kunden gefahren, hatte im Stau gestanden, aufgeladen. Dann runter Richtung Nürnberg, noch einmal im Stau gestanden. Ein Nissan hatte auf der A 9 kurz nach Dessau Süd einem Kollegen bei einer Baustelle die Vorfahrt genommen. Selber schuld, der Nissan. Der Wagen sah ziemlich zerbeult aus, der Lkw hatte keinen Kratzer. Solche Bilder verleihen Gruhn ein Gefühl der Sicherheit.

Normalerweise gehört Gruhn zu jenen Typen, die im Radio keine Nachrichten hören. Meist drückt er schnell den Knopf für den Sendersuchlauf, bis wieder Musik kommt. In diesen Tagen aber bleibt er drauf, denn Gruhn interessiert sich neuerdings für Politik. Europaweit blockieren die Fernfahrer die Autobahnen, um gegen die enormen Spritpreise zu protestieren. Er findet das toll, weil die Preise und die Ökosteuer auch seine Lebensqualität auffressen. Im Grunde ist es ihm ja egal, was der Liter Diesel so kostet. Gruhn ist angestellter Fernfahrer, den Sprit zahlt der Chef. Weil der Chef aber auch nicht endlos Geld hat, holt er sich die Mehrkosten über Umwege von seinen Fahrern zurück. Eigentlich hätte er im Oktober eine Gehaltserhöhung bekommen sollen - als Treueprämie für drei Jahre Firmenzugehörigkeit. Die wurde ihm aber bereits gestrichen. Und unter Kollegen munkelt man, dass es diesmal auch kein Weihnachtsgeld geben wird.

"Danke, Herr Schröder", sagt Mario Gruhn. Jedes Mal, wenn er die Nachrichten hört, würde er seinen Wagen am liebsten gleich quer stellen. Dass die Autofahrer ihm das übel nehmen würden, glaubt er nicht: "Die regen sich doch genau so auf wie wir." Und auch die Kollegen würden mitmachen. "Leider dürfen wir das nicht", sagt er, "weil wir sonst noch mehr Ärger mit der Polizei bekommen, als wir sowieso schon haben." Die Belgier haben es gut, die dürfen streiken. Ihm bleibt nur die Wut im Bauch, wenn er hört, wie der Verkehrsminister irgendetwas von Entfernungspauschalen erzählt. "Was hilft das, wenn wir sowieso drei Mal Steuer auf den Sprit zahlen?" Belgier müsste man sein, einfach den Wagen quer stellen! Aber so muss er noch warten - bis zur Sternfahrt nach Berlin. Da wird er dabei sein.

Mario Gruhn ist Berufskraftfahrer. Für eine Berliner Spedition fährt er zwei bis drei Mal die Woche die Strecke Berlin-Crimmitschau-Darmstadt und zurück. Zwischen den drei Stützpunkten zieht er mit seinem Sattelschlepper Arzneimittel herum. Für die knapp 1400 Kilometer pro Umlauf braucht er mit allen Pausen gut dreißig Stunden. Oder 420 Liter Diesel. Das ist sowieso schon teuer. Aber jetzt erst, dank Ökosteuer und ständiger Spritpreis-Erhöhungen. Querstellen, gleich hier vor Leipzig? Dann wäre er den Job los. Und den braucht er noch.

In Crimmitschau, beim nächsten Kunden, sollte er spätestens gegen sechs eintreffen. Aber da war der Unfall mit dem Nissan. Er kommt erst kurz nach acht, und jetzt ist nur noch ein Lagerarbeiter da, der ihm beim Ausladen hilft. Das dauert eine gute Stunde. Eigentlich hat der Gesetzgeber den Lkw-Fahrern das Be- und Entladen verboten. Aber wenn Gruhn nicht ausladen würde, würden es andere machen. Dann wäre er die Fuhre los, und wahrscheinlich bald auch seinen Job. Also be- und entlädt er.

Es ist kurz nach neun und Gruhn hat langsam wirklich Hunger. Seit gut zwei Stunden kann er an nichts anderes mehr denken, vor allem, weil es genau auf seiner Strecke Richtung Darmstadt kurz vor Weimar diesen einen Autohof mit den besten Bockwürsten der Welt gibt. Gegen den Hunger könnte er sich eine Stulle schmieren, eine kleine Notration hat er immer mit: Brot, Wurst, sogar ein paar Dosen Suppe. Aber das gibt dann wieder Krümel, und wenn Gruhn etwas nicht mag, dann sind das Krümel. Seine Kabine ist so sauber, dass er die Stullen sogar vom Boden essen könnte. Kein Krümel, noch nicht mal Kippenreste, obwohl Gruhn mindestens zwei Schachteln filterlose Camel am Tag raucht. Im Führerhaus seines MAN sieht es aus wie in einem Wohnzimmer. Die Fußböden sind mit Teppich ausgelegt. Wenn Gruhn nicht unterwegs ist, bewohnt er gemeinsam mit seiner Freundin, zwei Papageien und einem Hund eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung in Berlin-Rudow.

Nur noch ein paar Kilometer bis zur Tankstelle mit der Bockwurst. Die ist wirklich die beste im Land. Und gratis, wenn man seinen Lkw dort voll tankt. Knapp 600 Liter Diesel bringt Gruhn in seinen blauen MAN-Truck hinein. Und bei einem Dieselpreis von 1 Mark 70 und mehr hat sich der Fahrer eine Bockwurst für 3 Mark 50 wahrlich verdient.

Mitte Oktober wird Gruhn 40, und das sieht man ihm auch an. Die blonden Haare lichten sich schon ein bisschen, rund um die Augen hat er dunkle Ringe. 20 Jahre fährt er bereits Lkw. Aber er mag diesen Job. Einsam fühlt er sich nicht, wenn er nachts durch Deutschland braust. Da hilft ihm erstens sein Fernseher, zweitens sein Radio, und außerdem telefoniert er viel. Mit seiner Freundin. "Im Grunde spreche ich mehr mit meiner Freundin als andere Typen", sagt er.

Und dann hat er da natürlich auch noch sein Funkgerät, direkt neben dem Telefon. Eigentlich sollten sich die Kollegen über Funk ja nur vor Polizeistreifen und Radarkontrollen warnen. Aber das CB-Gerät ist für Fernfahrer so wichtig wie für Ally McBeal die Sitzung bei ihrer Therapeutin. Alle paar Sekunden rauscht und knattert der graue Kasten. Neuerdings geben sich die Kollegen Empfehlungen über billige Tankstellen in der Umgebung.

Gruhn mag den Funk, auch deshalb, weil er sich daraus oft die Bestätigung holt, dass er bei seiner Jobwahl das Richtige getan hat. Gruhn gehört zwar nicht unbedingt zu den Großverdienern der Branche, als Angestellter einer kleinen Spedition im Berliner Umland bekommt er knapp 3000 Mark netto im Monat. Aber die rollen konstant auf seinem Konto ein - unabhängig von seiner Kilometerleistung und vom aktuellen Spritpreis. Als "Feigling" musste sich Gruhn oft beleidigen lassen, weil er sich für diese Sicherheitsvariante entschieden hat. Viele Kollegen haben sich in den vergangenen Jahren selbstständig gemacht. Wenn sie krank werden oder einen Unfall bauen, haben sie Pech gehabt. Lange galt das für Fernfahrer als Chance, Geld zu machen. Doch in den vergangenen Monaten fielen die Frachttarife in den Keller. Dazu kommen nun steigende Benzinpreise.

Selbstständige Fernfahrer sind heute auf der Autobahn leicht auszumachen: Sie fahren immer etwas schneller als Mario Gruhn, auf den Tankstellen gehen sie nur kurz pinkeln und dann gleich wieder zurück ins Fahrerhaus. Und sie haben auch dickere Augenringe als er. Natürlich müssen sich auch diese Kollegen an die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten halten: Vier Stunden und 30 Minuten dürfen die Fahrer im Moment am Stück rollen. Nach 45 Minuten Pause dürfen sie nochmals viereinhalb Stunden ans Steuer. Dann ist Schluss, acht Stunden Stehzeit sind Gesetz.

Kontrolliert wird über die so genannte "Scheibe" - die Nadel des Fahrtenschreibers notiert auf ihr die Geschwindigkeit. Läuft der Motor, zeichnet das die Nadel unerbittlich auf. Wer zu lange auf der Straße ist und erwischt wird, den kann die Polizei aus dem Verkehr ziehen. Er muss auf dem Parkplatz seine Zwangspause absitzen.

Im Moment wird sehr streng kontrolliert. Überall auf den Autobahnen baut die Polizei Lkw-Kontrollstellen auf. Ist es ein Zufall, dass genau dann kontrolliert wird, wenn die Fernfahrer gegen die steigenden Benzinpreise protestieren? Trotzdem sind die Parkplätze entlang der Strecke nach Darmstadt nicht gerade voll. "Die Kollegen sind auch nicht doof", sagt Gruhn. Es gibt ein paar Mittel, die Scheibe auszutricksen - und die kennt jeder Fernfahrer.

Das mit dem Hunger ist jetzt schon wirklich dringend. Nur noch wenige Kilometer. Bockwurst. Gruhn muss heute in seiner Kabine schlafen - so gegen drei Uhr morgens, wenn er dann endlich seinen MAN auf dem Parkplatz in Darmstadt abstellt. Wie lange kann ein Fernfahrer aufbleiben, wenn er so mit 90 Stundenkilometer durch die Nacht rattert? Gruhn ist da gewissermaßen ein Glückskind. Bei ihm hilft Kaffee noch, deswegen hat er auch immer eine Thermoskanne im Auto. So gegen zwei, drei Uhr morgens, wenn der Fahrtenschreiber besser nicht mehr arbeiten sollte, dreht er dann das Radio ganz laut auf, kurbelt die Fenster hinunter und singt. Er kann wirklich sehr laut singen. Gut, dass auf den deutschen Autobahnen nachts sehr wenig los ist.

Seit die Dieselpreise steigen und steigen hat sich Mario Gruhn auf Geheiß seines Chefs einen anderen Fahrstil angewöhnt. Neuerdings fährt er immer mit "Tempomat". Das entlastet nicht nur die Füße, sondern ist auch Sprit sparender, weil der Tempomat dosierter Gas gibt und bremst, als es Gruhn trotz seiner 20 Jahre Berufserfahrung zusammenbringt. Fünf bis sechs Liter soll das angeblich auf 100 Kilometer bringen. Das läppert sich. Da links ist sie, die Tankstelle mit der Bockwurst. Seit vielen Jahren tankt er hier. Und isst gratis und lecker.

Mario Gruhn seufzt, schaltet den Tempomat aus und gibt richtig Gas. Seit vergangener Woche tankt er immer erst beim übernächsten Autohof. Dort ist der Diesel um mehr als zehn Pfennig günstiger. Aber dort gibt es keine Wurst. Nur schlabbrigen Kaffee. Einen Vorteil hat die Tankstelle wenigstens: Der Tankwart ist ein lustiger Kerl. Über seinem Verkaufsstand hat er ein Schild montiert. "Früher war ich Tankwart", steht da, "heute bin ich Steuereintreiber."

Markus Huber

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