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Grünen-Chef Cem Özdemir.

© Mike Wolff

Özdemir im Interview: „Manche Selbstkritik hätte ein bisschen eher kommen können“

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir über das Ende des grünen Höhenflugs, den erbitterten Streit in der Berliner Fraktion - und darüber, was Renate Künast falsch gemacht hat.

Herr Özdemir, wie fühlt es sich an auf der Treppe nach unten?

Sie irren: Wir sind nicht auf dem Weg nach unten.

Im vergangenen Herbst erreichte Ihre Partei in bundesweiten Umfragen um die 25 Prozent und überholte zuweilen die SPD. Heute sieht es doch etwas anders aus …

Es ist doch abwegig, uns einen Abwärtstrend anzudichten. Wir haben das erfolgreichste Jahr unserer Parteigeschichte hinter uns. Wir sind in allen 16 Landtagen vertreten, stellen mit Winfried Kretschmann einen Ministerpräsidenten und regieren in vier weiteren Ländern mit. In Baden-Württemberg und in Bremen sind wir zweitstärkste Partei.

Vor einem Jahr galt Jürgen Trittin schon als Kanzlerkandidat der Grünen. Davon redet keiner mehr.

Wir haben nie eine Debatte um eine Kanzlerkandidatur von Jürgen Trittin geführt, das haben die Medien getan.

Tatsache ist aber, dass die Grünen in Umfragen schon seit Monaten nachgeben und in jüngster Zeit noch einmal um zwei bis drei Prozent sackten.

Wir haben immer gesagt: Für uns zählen nicht Umfragen sondern Wahlergebnisse. Und die waren großartig in diesem Jahr. Wir haben bei allen Wahlen zugelegt, auch in Berlin. Wir sind die einzige Partei im Bundestag, die kontinuierlich neue Mitglieder gewinnt. Jetzt müssen wir vor allem zeigen, dass wir gut regieren können.

In Berlin war die Enttäuschung groß: Renate Künast wollte Regierungschefin werden, nun müssen die Grünen in die Opposition. Woran lag’s?

Manche hatten gedacht, Rot-Grün in Berlin sei ein Selbstläufer und überlegten schon, wer welchen Senatsposten bekommt. Wir brauchen eine ehrliche Wahlanalyse. Manche selbstkritische Äußerung hätte auch schon ein bisschen eher kommen können …

Sie meinen das Eingeständnis von Renate Künast, dass sie Fehler gemacht hat?

Ich meine alle, es waren ja viele für den Wahlkampf verantwortlich. Wir haben es Klaus Wowereit zu einfach gemacht, sich Rot-Grün zu entziehen. Jetzt müssen wir die Rolle als Oppositionsführer annehmen.

Ihr Vorgänger Reinhard Bütikofer kritisiert, Renate Künast habe den Wahlkampf mit einer „Mischung aus Selbstüberschätzung und Fahrlässigkeit“ geführt. Gut beobachtet?

Meine Worte wären das nicht. Renate Künast hat sich ja auch selbst kritisch zum Wahlkampf in Berlin geäußert. Eine wichtige Lehre aus Berlin lautet: Wir müssen ernsthaft sein, aber wir dürfen auch nicht langweilig rüberkommen. Unser Wahlkampf war zu bieder.

Lesen Sie auf Seite 2, welche Lehren Özdemir aus dem Berliner Fiasko zieht.

In der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus streiten die Parteiflügel erbittert um die Fraktionsspitze. Wie, meinen Sie, wirkt das auf Grünen-Wähler?

Die Schärfe dieses Konflikts wird niemanden für uns einnehmen. Eigentlich hatten wir diese Formen des Streits hinter uns gelassen. Doppelspitzen sollten immer auch Brücken in alle Richtungen einer Fraktion bauen und sie einbinden. Was aber auch nicht geht, ist, dass ein Parteiflügel damit droht, einer gewählten Fraktionsspitze die Loyalität aufzukündigen. Mit der Einschaltung der zwei Vermittler ist die Sache nun hoffentlich auf einem guten Weg.

Gibt der Berliner Grünen-Zirkus einen Vorgeschmack darauf, was Ihrer Partei nach der Wahl 2013 im Bund bevorsteht?

Ganz sicher nicht. An der Spitze der Partei, in der Bundestagsfraktion und in fast allen Ländern zeigen wir schon lange, dass wir Erfolg haben, wenn wir alle Parteiflügel einbinden.

Renate Künast und Jürgen Trittin haben aus Berlin die Lehre gezogen, Schwarz- Grün auszuschließen. Richtig?

Das hat bekanntlich eine Diskussion innerhalb der Partei ausgelöst, zumal unsere Landesverbände solche Ansagen aus Berlin nicht akzeptieren. Aus meiner Sicht hat sich der Kurs der Eigenständigkeit bewährt und uns zu den größten Erfolgen unserer Geschichte geführt. Es gibt keinen Grund, ihn zu ändern. Das heißt nicht, dass uns von der SPD genauso viel oder wenig trennt wie von der CDU, mit der SPD haben wir weit mehr Gemeinsamkeiten.

SPD-Politiker wie Olaf Scholz sprechen den Grünen ihre Eigenständigkeit nicht ab, versuchen aber gleichzeitig, sie überflüssig zu machen. Wie begegnen Sie dem?

Die SPD hat im vergangenen Jahr Niederlagen zu Wahlsiegen erklärt. Außer in Hamburg hat sie überall Stimmen verloren, in Berlin auch. Wenn SPD und Grüne nur untereinander Stimmen austauschen, werden wir 2013 die Mehrheit nicht gewinnen. Manche bei uns wollen die Grünen im linken Lager einsperren. Davor kann ich nur warnen. Wir müssen unsere Stammwähler weiter pflegen, aber gleichzeitig Angebote an die machen, die uns bisher nicht gewählt haben. Wir haben eine riesige Chance, wenn wir auch enttäuschte Wählerinnen und Wähler von CDU und FDP gewinnen. Ich will sowohl den Befürworter der Legalisierung von weichen Drogen ansprechen als auch den Mittelständler. Beide sind bei den Grünen gut aufgehoben.

Was heißt das praktisch?

Wir müssen uns gezielt auch einem Milieu zuwenden, das mit unserem traditionellen Umfeld wenig zu tun hat. Wir sollten auf Neujahrsempfängen bei den Industrie- und Handelskammern prominent vertreten sein. Wir sollten auch bei Feiern der Landessieger von Handwerkskammern mit dabei sein. Vor einigen Jahren erzählten mir Mittelständler noch entsetzt, dass ihre Kinder Grüne wählen. Später machte auch die Ehefrau des Chefs bei uns ihr Kreuz. Mittlerweile wählen uns viele mittelständische Unternehmer auch selbst. Sie wissen, dass wir einen Spitzensteuersatz von 49 Prozent wollen und eine verbindliche Frauenquote für Dax-Vorstände. Sie sehen in uns aber den verlässlichen Partner, der sein Wort hält und ein offenes Ohr hat. Es geht also nicht darum, unser Programm abzuschleifen oder uns anzubiedern, um neue Wähler zu erreichen, sondern vielmehr diese für unser Gesamtpaket zu gewinnen.

Kommen wir zur europäischen Schuldenkrise. Sie kennen Griechenlands Regierungschef Papandreou seit Jahren. Haben Sie seinen Schritt verstanden?

Ich habe nicht verstanden, dass er seine EU-Kollegen nicht informiert hat. Mir fällt allgemein auf: Wir reden von Europa, fühlen und handeln aber immer noch national. Warum haben deutsche Politiker die Empörung der Menschen in Griechenland erst zur Kenntnis genommen, als sich Papandreou zum Handeln gezwungen sah? Warum war es nicht selbstverständlich, dass Politiker aus anderen EU-Ländern häufig in Griechenland zu Gast waren, um die Situation der Menschen dort besser zu verstehen?

Lesen Sie auf Seite 3, wie Özdemir zur Idee einer Volksabstimmung in Deutschland steht.

Die Grünen sind erklärte Freunde der Demokratie. Warum dann nicht ein deutsches Plebiszit über das Rettungspaket, wie das nun manche vorschlagen?

Richtig, wir sind die Vorkämpfer für direkte Demokratie, aber bitte immer auf der richtigen Ebene! Ich stimme ja auch nicht im Gemeinderat über Bundesgesetze zum Atomausstieg ab. Es ist doch absurd, wenn nun CSU-Politiker ein Plebiszit über das Rettungspaket fordern. Wer nur für Volksentscheide ist, wenn es gegen Europa geht, ist kein Freund der direkten Demokratie, sondern ein rechter Populist.

Aber die Grünen plädieren doch auch in der Europapolitik für mehr Volksbeteiligung ...

Wir sind dafür, europapolitische Themen europaweit abzustimmen. Das hätte den Vorteil, dass wir eine europäische Öffentlichkeit herstellen. Wir haben vorgeschlagen, dass wir einen europäischen Konvent einberufen und die europäischen Verträge ändern. Wir wollen eine europaweite Abstimmung – mit doppelten Mehrheiten, damit die kleinen Länder keine Angst haben müssen, majorisiert zu werden.

Was ist Ihr Vorschlag in der Schuldenkrise, die zu einer Krise Europas zu werden droht?

Wir brauchen effektive Maßnahmen, damit die Zinsen für Staatsanleihen nicht durch die Decke schießen. Das wäre im Falle Italiens ansonsten dramatisch. Es führt kein Weg daran vorbei, dass die Regierungschefs ein klares Signal an die Märkte senden: Euro-Bonds müssen kommen. Das muss zwingend damit verbunden sein, dass die Mitgliedstaaten ihre Haushalte nachhaltig sanieren. Wir brauchen Mut und Entschlossenheit zu mehr Europa statt nationalstaatlicher Grabenkämpfe und unverbindlicher Zusammenarbeit zwischen Regierungen à la Merkel. Ich weiß, es gibt durch Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht enge Vorgaben. Dann müssen wir eben auch über eine Grundgesetzänderung und eine Stärkung des europäischen Parlaments sprechen. Wir haben in der globalisierten Welt nur eine Zukunft, wenn wir in der EU zunehmend Aufgaben vergemeinschaften und auch Kernkompetenzen des Nationalstaates abgeben.

Das Gespräch führte Hans Monath.

Hans Monath.

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