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Flüchtlinge aus Afghanistan, Eritrea und Syrien vor einem Schild der Agentur für Arbeit in Hannover.

© Susann Prautsch/dpa

Offener Brief eines Oberbürgermeisters: "Meine Eltern waren selbst Flüchtlinge"

Die Kommunen tragen die Hauptlast bei der Unterbringung der Flüchtlinge. Sie können trotzdem eine Chance sein, meint Christian Schuchardt. Der Würzburger Oberbürgermeister hat sich mit einem Brief an die Bevölkerung gewandt, den wir hier dokumentieren.

Liebe Würzburgerinnen und Würzburger,

Sehr geehrte Damen und Herren.

Die Welt scheint aus den Fugen geraten. Täglich erreichen uns bedrückende und grauenvolle Bilder aus Krisenregionen, in denen die Menschen mit Armut, Verfolgung und Gewalt konfrontiert sind. Tausende verlassen ihre Heimat, um diesen Situationen zu entfliehen. Als Konsequenz hieraus kommen in der Bundesrepublik Deutschland wöchentlich hunderte neuer Flüchtlinge an.

Um diese immense Herausforderung zu meistern, leisten zahlreiche Menschen in diesem Land Ungewöhnliches; beispielsweise die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Regierung von Unterfranken, dies verbunden mit Überstunden, Urlaubssperren und auch der Heranziehung von fachfremdem Personal.

Ausgeschöpfte Kapazitäten in den Heimen

Die Kapazitäten in der Gemeinschaftsunterkunft in der Veitshöchheimer Straße und in der Erstaufnahmeeinrichtung in Schweinfurt sind restlos erschöpft. Daher hat die Regierung von Unterfranken in den vergangenen Tagen in der Zellerau ein Zelt für Erstankömmlinge errichtet.

Auch die Stadt Würzburg stellt sich als Kommune ihrer Verpflichtung und schafft weitere neue Unterkünfte zur Aufnahme der bei uns ankommenden Flüchtlinge. Die Solidarität und die Hilfsbereitschaft der Würzburgerinnen und Würzburger gerade in den letzten Monaten sind beeindruckend.

Gleichzeitig wächst jedoch der Unmut in der Bevölkerung und äußert sich in den sozialen Netzwerken und an den Stammtischen. Wieso bei uns, wer soll das bezahlen, verbunden mit Bedenken gegen sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge. Die Bewahrung des sozialen Friedens in unserer Stadtgesellschaft stellt in dieser Situation eine enorme Herausforderung dar.

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Ohne Zuwanderung würde es nicht funktionieren

Im Moment wird vor allem der Aufwand für die Flüchtlingsunterbringung gesehen und dies teilweise als eine einseitige Leistung verstanden. Kurzfristig mag dies so erscheinen. Dennoch bin ich trotz dieser Bedenken fest davon überzeugt, dass wir alle langfristig enorme Vorteile aus dieser Entwicklung ziehen werden.

Man stelle sich unser Land bereits heute ohne die Zuwanderer der ersten Generation aus der Türkei oder Italien vor. Oder die USA ohne die Einwanderer aus den hispanischen Ländern und China. Bereits heute würden weder die USA noch unser eigenes Land mehr funktionieren. Bereits die Zuwanderer der vergangenen Jahrzehnte haben sich nicht nur selbst finanziert, sondern auch rein fiskalisch betrachtet einen unverzichtbaren Beitrag zur Wertschöpfung und eben auch zur Finanzierung der sozialen Systeme geleistet.

Und gerade jetzt, in Zeiten des demographischen Wandels und weiterhin niedrigster Geburtsraten, wir unterbieten mittlerweile Japan hinsichtlich der Geburtenhäufigkeit, sind wir dringend auf Zuwanderung angewiesen, damit unser Arbeitsmarkt und unsere umlagefinanzierten Sozialsysteme auch in der Zukunft stabil bleiben.

Meine Eltern waren selbst Flüchtlinge aus Königsberg

Christian Schuchardt (CSU, FDP und Würzburger Liste), Würzburger Oberbürgermeister.
Christian Schuchardt (CSU, FDP und Würzburger Liste), Würzburger Oberbürgermeister.

© dpa

Meine feste Überzeugung darüber, dass unsere Gesellschaft einen hohen Nutzen aus dieser Gesamtsituation ziehen wird, untermauern auch meine persönlichen Gespräche und Eindrücke in unseren dezentralen Unterkünften der Stadt Würzburg. Auswanderer sind vielfach die hochmotivierten Menschen, die eine Chance suchen, um sich in unserem fremden Land eine Existenz aufzubauen. Im Kontakt mit Flüchtlingen stelle ich immer wieder fest, dass es sich häufig um studierte Köpfe, IT-Fachleute, Ingenieure und andere qualifizierte Fachkräfte handelt. Gerade von diesen Männern und Frauen werden wir langfristig profitieren.

Auf der anderen Seite ist jedoch klar anzusprechen, dass es Asylbewerber gibt, die aus sicheren Herkunftsländern kommen und mitnichten Flüchtlinge im Sinne unseres Grundgesetzes darstellen. Hier ist es richtig, wenn Bundes- und Landesregierung sich für eine schnelle Rückführung einsetzen und versuchen die Attraktivität der Destination Deutschland durch z.B. vermehrte Sachleistungen statt Geldleistungen abzusenken. Wobei man auch hier nicht pauschalieren darf. Denn Minderheiten wie Teile der Roma-Bevölkerung werden in ihren sicheren Heimatländern durchaus diskriminiert.

Zuwanderungsströme aus Südosteuropa

Es gilt auch einen Blick auf die Zusammensetzung der Flüchtlingsströme zu werfen. Für das Anschwellen der Flüchtlingsströme in den vergangen zwei Jahren sind die Zuwanderungsströme aus Südosteuropa maßgeblich. Der Zustrom aus dem Rest der Welt ist hingegen keine neue Völkerwanderung. Es sind wenige Länder, die hier zu nennen sind. Es sind die Länder in denen tatsächlich Krieg herrscht wie Ukraine und Syrien und es sind Länder in denen Demokratie oder Religionsfreiheit nicht funktionieren wie Äthiopien, Eritrea und Nigeria.

Sofern es sich um eine rein wohlstandsorientierte Motivation und damit einen missbräuchlichen Flüchtlingszustrom handeln würde, müssten ähnlich hohe Flüchtlingszahlen aus Ghana, der Elfenbeinküste, Mali oder dem Senegal zu verzeichnen sein. Das ist nicht der Fall. Daher ist neben der sicherlich auch vorhandenen Motivation auf eine bessere wirtschaftliche Lebensperspektive bei der Mehrzahl der Asylbewerber eine politische oder religiöse Fluchtmotivation gegeben. Dies bestätigt sich auch immer wieder im persönlichen Gespräch.

Das Handwerk sucht Auszubildende

Ich empfehle auch einmal ein Gespräch mit dem eigenen Friseur oder der Heizungsfirma zu führen. Dies sind Branchen in denen es heute schon keinen Nachwuchs mehr gibt. In ganz Würzburg gibt es im aktuellen Jahrgang lediglich ein Handvoll Friseurlehrlinge wo es noch vor wenigen Jahren zwei Dutzend waren. Mein Heizungsbauer findet überhaupt keine Auszubildenden mehr. Und auch ein Blick in unsere Altenheime und Senioreneinrichtungen lohnt sich. Ohne Kräfte aus Osteuropa, die im Übrigen in ihren Heimatländern fehlen, ginge bei uns schon lange nichts mehr. Daher ist der Apell hinsichtlich der sogenannten Willkommenskultur so bedeutsam, im Interesse unseres Landes und damit auch unserer Stadt.

Gleichwohl ist es mit dem Begriff der Willkommenskultur nicht immer so einfach. Ein Begriff, der überstrapaziert scheint, manchmal bereits reduziert auf ein politisches Schlagwort. Willkommenskultur lässt sich nicht verordnen, sie kann nur aus einer inneren Überzeugung kommen und ist vielmehr eine Haltung den Menschen gegenüber, die zu uns kommen.

Meine Eltern waren selbst Flüchtlinge aus Königsberg. Meine Mutter war mehrere Jahre in Dänemark nach Kriegsende interniert und als sie dann nach Süddeutschland kam, wurden diese Menschen mitnichten willkommen geheißen. Sie wurden als Flüchtlinge beschimpft, es wurde behauptet, sie nähmen im kriegszerstörten Deutschland Wohnraum weg, und sie wurden ob ihrer Herkunft nicht nur auf dem Schulhof diskriminiert. In der Rückschau wird diese Integration von über zwölf Millionen Flüchtlingen aus den östlichen Landesteilen als gelungen verklärt. Es waren aber schwierigste Zeiten und große Belastungen für vom Krieg traumatisierte Kinder und Erwachsene.

Bewusst über die Nachbarschaft nachdenken

Der einzige Unterschied zu den Menschen, die heute aus den Kriegsgebieten der Welt zu uns kommen, besteht darin, dass sie keinen deutschen Pass haben und in der Regel der deutschen Sprache noch nicht mächtig sind. Ich empfehle aber jedem, der Bedenken gegen Zuwanderung hat, einmal bewusst über seine Nachbarschaft nachzudenken. Neben ihnen wohnen Kriegsflüchtlinge aus jener Zeit und bereits heute jede Menge Menschen aus anderen Ländern. Ist das schlecht oder nicht doch eine Bereicherung?

Selbstverständlich wird das Zelt in der Zellerau eine Herausforderung für die Bürgerinnen und Bürger in diesem Stadtteil darstellen. Auch deswegen, weil es lediglich eine Durchgangseinrichtung ist. Es handelt sich jedoch um eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung für uns alle, der wir uns stellen müssen und auch stellen werden. Aufgrund der bisherigen Rückmeldungen aus dem Stadtteil und der enormen Hilfsbereitschaft der vielen Ehrenamtlichen bin ich überzeugt, dass wir gemeinsam diese Gesamtsituation meistern und den zu uns kommenden Menschen mit Freundlichkeit, Respekt und Akzeptanz entgegentreten werden. Ich bin stolz auf meine Kolleginnen und Kollegen im Sozialreferat, die ihr Äußerstes leisten und unglaublich dankbar allen freiwilligen Helferinnen und Helfern, die sich hier unermüdlich engagieren.

Eine Verpflichtung aus unserer Geschichte

Der Umgang unserer Stadtgesellschaft mit dem Flüchtlingszustrom ist die Summe dessen, was wir alle jeder einzelne dazu beitragen. Damit ist jeder Würzburger und jede Würzburgerin für sich aufgefordert und verantwortlich. Sicherlich sind viele, die hier ankommen, die bislang nur wenige Tage in Deutschland waren, noch kaum mit unseren Sitten und Gepflogenheiten vertraut. Aber, wären wir das, wenn wir plötzlich in ein anderes Land kämen?

Letztlich geht es darum, Menschen, die ob Krieg, Verfolgung oder aus Armut und Hoffnungslosigkeit zu uns gekommen sind, anzunehmen und sie auch als Chance für unsere Gesellschaft zu begreifen. Das ist sicherlich nicht bequem, aber auch etwas sehr Positives. Und letztlich eine Verpflichtung aus unserer Geschichte heraus und auch aus dem Gebot der Nächstenliebe.

Ihr

Christian Schuchardt

Oberbürgermeister

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