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Eine dunkle Rauchwolke über Gaza-Stadt.

© Reuters

Update

Offensive gegen die Hamas: Israel setzt erstmals Bodentruppen im Gazastreifen ein

Im Minutentakt schlagen israelische Bomben im Gazastreifen ein - dabei sind bereits mehr als 120 Menschen ums Leben gekommen. Jetzt hat Israel bei der Offensive gegen die Hamas auch erstmals kurzzeitig Bodentruppen eingesetzt.

Im Gazakonflikt haben sich Israel und die Hamas am Wochenende die bislang schwersten Angriffe seit Beginn der Eskalation vor fast einer Woche geliefert. Die Islamisten feuerten vom Gazastreifen aus in einer koordinierten Aktion Raketen auf die Wirtschaftsmetropole Tel Aviv und den wichtigsten Flughafen Israels in Tel Aviv ab. Die Streitkräfte des jüdischen Staates nahmen das Haus des Polizeichefs von Gaza ins Visier und töteten nach palästinensischen Angaben dabei 18 Menschen. Offensichtlich bereitet die Armee auch einen größeren Einsatz im nördlichen Gazastreifen vor: In der Grenzstadt Beit Lahija wurden Tausende Palästinenser mit Flugblättern aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen. Israel geriet auch aus dem Libanon erneut unter Beschuss.

Die israelischen Streitkräfte griffen erneut Ziele im Gazastreifen an. Beim bislang folgenschwersten Luftschlag wurde das Haus des Polizeichefs von Gaza Taisir al-Batsch ins Visier genommen. Allein dabei kamen 18 Mitglieder seiner Familie ums Leben, wie aus Kreisen der Hamas verlautete. Al-Batsch selbst habe mit schweren Verletzungen überlebt. Zudem wurden nach offiziellen Angaben der Palästinenser am Sonntag eine Frau und ein dreijähriges Mädchen getötet. Dem Gesundheitsministeriums zufolge kamen innerhalb von sechs Tagen mindestens 160 Palästinenser ums Leben, darunter etwa 135 Zivilisten. 30 der zivilen Opfer seien Kinder.

Alle viereinhalb Minuten schlägt eine israelische Bombe, Granate, Rakete im dichtestbevölkerten Gazastreifen ein.
Alle viereinhalb Minuten schlägt eine israelische Bombe, Granate, Rakete im dichtestbevölkerten Gazastreifen ein.

© Reuters

Verletzte bei Einsatz von Kommandosoldaten am Boden

Israel setzte nach eigenen Angaben erstmals auch Kommandosoldaten am Boden gegen die Islamisten ein, um den Abschuss von Raketen zu verhindern. Bei einer Aktion im Norden des Gazastreifens seien vier Elitesoldaten der Marine verletzt worden, erklärte ein Sprecher der Streitkräfte. Sie hätten aber ihren Auftrag erfüllt. Die Hamas dagegen erklärte, sie habe den Angriff zurückschlagen können.

In der Gegend bereitet Israel offensichtlich eine größere Militäraktion vor. Auf Flugblättern wurde die Bevölkerung in mehreren Stadtteilen von Beit Lahija aufgefordert, sich weiter südlich in Sicherheit zu bringen. Tausende folgten der Aufforderung und suchten etwa in Schulen in Gaza-Stadt Zuflucht, die von den Vereinten Nationen betrieben werden. Das palästinensische Innenministerium sprach von “psychologischer Kriegsführung“ und forderte die Bewohner zur Rückkehr beziehungsweise zum Verbleib in der Stadt auf. Menschenrechtsgruppen und Israel beklagten häufig eine Strategie der Islamisten, Bewohner als menschliche Schutzschilde einzusetzen.

Die israelische Armee hat die Vorbereitungen für eine Bodenoffensive abgeschlossen und bis zu 40.000 Reservisten mobilisiert. Die meisten der bislang mehr als 1000 Angriffe erfolgten aber aus der Luft. Nach israelischer Darstellung wurden dabei etwa Raketenabschussrampen und -fabriken sowie Schmugglertunnel und Kommandozentren der Hamas ins Visier genommen. Die Organisation hat seit Beginn der Eskalation nach israelischen Angaben mehr als 800 Raketen auf den jüdischen Staat abgefeuert. Getötet wurde dabei niemand.

Beschuss auch vom Libanon aus

Radikale Palästinenser nutzen nicht nur den Gazastreifen, um Israel mit Raketen anzugreifen, sondern auch den Libanon nördlich der Grenze. Von dort wurden am Samstag zum zweiten Mal mehrere Raketen abgefeuert. Israel reagierte mit Artilleriefeuer. Dazu bekannte sich die Hamas.

Raketen im Minutentakt

Tag für Tag, Nacht für Nacht: Alle viereinhalb Minuten schlägt eine israelische Bombe, Granate, Rakete im dichtestbevölkerten Gazastreifen ein. 1100 waren es seit Kampfbeginn bis Freitag. Doppelt so viele wie die Palästinenser auf israelisches Gebiet abgeschossen hatten: 550. Nach Angaben palästinensischer Rettungskräfte kamen insgesamt mindestens 121 Menschen ums Leben, mehr als 900 wurden verletzt. In Israel gab es bisher keine Toten. Wie die israelische Armee am Samstag mitteilte, wurden binnen 24 Stunden fast 160 Ziele im Gazastreifen bombardiert, darunter rund 70 Raketenwerfer und mehrere Waffenlager, von denen sich eines in einer Moschee befunden habe. Beim Beschuss eines Rehabilitationszentrums mit einer Panzergranate seien auch zwei behinderte Frauen umgekommen. Eine israelische Armeesprecherin sagte, sie wisse noch nicht, warum das Gebäude attackiert worden sei. Armeeangaben zufolge wurde zudem eine Moschee beschossen, weil sich dort ein geheimes Waffenlager befunden habe.

Bei der Offensive gegen die radikalislamische Hamas im Gazastreifen hat die israelische Armee zudem erstmals kurzzeitig Bodentruppen eingesetzt. Ein Elitekommando der Marine sei in der Nacht zum Sonntag in den Norden des Palästinensergebiets eingedrungen und habe eine Stellung der Hamas angegriffen, von der aus immer wieder Raketen abgeschossen worden seien, berichtete der öffentlich-rechtliche israelische Rundfunk. Nach Angaben eines Armeesprechers wurden dabei vier Soldaten leicht verletzt. Der bewaffnete Arm der Hamas, Kassam-Brigade, teilten mit, dass ein israelisches Kommando versucht habe, an einem Strand der Region Sudanjia an Land zu gehen. Dabei sei es zu Feuergefechten mit den palästinensischen Kämpfern gekommen.

Raketenalarm in Tel Aviv und anderen israelischen Städten

Islamistische Kämpfer der Hamas im Gazastreifen hatten zuvor am Samstagabend erneut mehrere Raketen auf Tel Aviv und andere Ziele in Israel abgefeuert. In der Großstadt heulten die Alarmsirenen, viele Bürger begaben sich in Schutzräume und andere gesicherte Zonen. Eine Armeesprecherin berichtete, dass die Raketenabwehr drei der Geschosse abgefangen habe. In Tel Aviv waren mehrere Detonationen zu hören - offenbar die Abschussgeräusche des Abwehrsystems „Eisenkuppel“. Auch in Jerusalem und anderen Teilen Israels ertönte am Abend Raketenalarm, wie die Armee via Twitter mitteilte.

Die Kassam-Brigade hatte die Angriffswelle zuvor über SMS-Botschaften und via Twitter angekündigt. Damit sollte der Tod eines Neffen des Gaza-Ministerpräsidenten Ismail Hanija vergolten werden, der am Samstag bei einem israelischen Luftangriff ums Leben kam.

Streit um zivile Opfer

Die israelischen Streitkräfte hatten am Dienstag ihre Offensive „Schutzrand“ begonnen, um den massiven Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen zu stoppen. Militärsprecher Moti Almos sagte am Samstag im Armeeradio, die Luftangriffe würden noch mindestens einen Tag fortgesetzt. Es gebe noch „viele“ mögliche Ziele. 40 Prozent der Opfer der israelischen Angriffe seien Frauen und Kinder, sagen die Ärzte im Schifa-Krankenhaus in Gaza. Das Personal dort kämpft nach eigenen Angaben mit zunehmenden Engpässen bei Medikamenten und Materialien, die sie zur Versorgung der Kranken und Verletzten benötigen. Israelische Militärstellen bestreiten, dass sie im Gazastreifen zivile Opfer verursachen wollten. Auch am Samstag verwiesen sie auf Zahlen, die belegen sollten, dass die Angriffe in erster Linie Militante und ihre Raketenstellungen ausschalten. Allerdings brächten die militanten Gruppen ihre Waffen und Kommandozentralen absichtlich in Wohnhäusern und Moscheen unter.

Militärische und menschliche Schutzschilde

Und in der Tat: So menschenverachtend wie dieses Mal, es ist die zehnte größere Auseinandersetzung in den vergangenen zwölf Jahren, agierten die Islamisten noch nie. Per Radio und Fernsehen wurden die Palästinenser aufgerufen, als menschliche Schutzschilder zu dienen. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, der wegen seiner harten Haltung nicht unumstritten ist, sagte: „Wir bauen Raketen für Iron Dome, um unsere Menschen zu schützen. Sie missbrauchen Menschen, um ihre Raketen zu beschützen.“ Die großen unterirdischen Raketenarsenale – die bisher nicht attackierten eigentlichen Angriffsziele – der Hamas liegen israelischen Sicherheitsexperten zufolge in unmittelbarer Nähe von Krankenhäusern. Die wichtigsten Raketenabschussrampen sind zwischen den Hochhäusern Gazas stationiert. Jeder Angriff darauf ist mit höchsten Risiken für Zivilisten verbunden.

Bunker nur für die Führer

Internationale Beobachter stellen daher die Frage, bei wie vielen der Toten es sich um islamistische Kämpfer der Hamas und des „Islamischen Dschihad“ handelt, und bei wie vielen um Zivilisten, die von diesen als menschliche Schutzschilder missbraucht wurden – und bei wie vielen um Familien, die trotz ausdrücklicher Warnungen Israels in den als Ziel anvisierten Wohnhäusern der Kommandeure der Islamisten und deren Umgebung blieben. Dass Israel bisher keine Opfer zu beklagen hat, ist nicht nur auf das weltweit einzigartige Raketenabwehrsystem Iron Dome zurückzuführen, sondern auch auf die Tatsache, dass die Israelis sich Schutzräume flüchten können. Die Hamas bringt nur ihre Führungsleute in Bunkern, die zum Teil unter Krankenhäusern liegen, in Sicherheit. Viele Tonnen Zement – von Israel geliefert – verwendeten die Islamisten unter anderem zum Bau ihrer „Terrortunnel“.

UN-Sicherheitsrat besorgt über Eskalation der Krise in Nahost

Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats haben sich extrem besorgt über die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten gezeigt. In einer gemeinsamen Mitteilung forderten die 15 Länder am Samstag in New York eine Waffenruhe zwischen Israel und der islamistischen Hamas im Gazastreifen. Internationales Recht, das auch den Schutz von Zivilisten einschließe, müsse eingehalten und direkte Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern wieder aufgenommen werden. Das mächtigste UN-Gremium will sich bei einer Sondersitzung am Montag (18.00 Uhr MESZ) erneut mit dem Thema befassen.

London will mit Verbündeten Waffenruhe in Gaza erreichen

Auch der britische Außenminister William Hague hat angesichts ständig steigender Opferzahlen eine Waffenruhe gefordert. Es müsse alles für eine sofortige Deeskalation getan werden, sagte Hague am Samstag in London nach Gesprächen mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und dem israelischen Außenminister Avigdor Lieberman. Er wolle am Sonntag am Rande der Atomgespräche in Wien mit seinen Kollegen Laurent Fabius (Frankreich), Frank-Walter Steinmeier (Deutschland) und John Kerry (USA) über die Thematik sprechen. Nach ständigem Beschuss durch militante Palästinenser bombardiert Israel seit Dienstag Stellungen der radikal-islamischen Hamas im Gazastreifen. Mindestens 127 Menschen wurden getötet. „Es ist klar, dass wir dringend konzertiertes, internationales Handeln brauchen, um einen Waffenstillstand zu erreichen, wie das auch 2012 der Fall war“, betonte Hague. Er forderte Ägypten auf, bei den Verhandlungen eine aktive Rolle zu übernehmen.

Großbritannien sei „tief besorgt“ über den Verlust von Menschenleben. Beide Seiten müssten weitere Verletzungen von Zivilisten verhindern, sagte Hague. „Ich habe Minister Lieberman gesagt, dass es das Recht Israels ist, sich gegen solche Attacken zu verteidigen, aber dass die ganze Welt eine Deeskalation sehen will“, sagte er. (mit dpa, Reuters)

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