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Politik: Ohne Herkunft keine Zukunft

TIRANA .An Bord der Boeing "August Euler" wird der Krieg für die achtzehn Berichterstatter immer realer.

Von Caroline Fetscher

TIRANA .An Bord der Boeing "August Euler" wird der Krieg für die achtzehn Berichterstatter immer realer.Sie lassen sich von Bundeswehrsoldaten Selters geben und flachsen gegen die mulmigen Gefühle an."Ich kann Ihnen nichts versprechen", hatte Oberstleutnant Vogelsang gewarnt."Tirana ist ausgebucht.Wir haben kein Hotel für sie.Wer will immer noch mitfliegen?" Alle.

Bei der militärischen Flugabfertigung Köln/Bonn hatten sie sich eingefunden, wie verabredet, manche auf so kurzfristigen Zuruf, daß sie gerade mal Kamera und Zahnbürste einpacken konnten."August Euler", 20 Jahre im Dienst der Luftwaffe, trägt tonnenweise Reis und "Einmannpakete" in ein Land, das im Augenblick nur ein Thema kennt: die Flüchtlinge aus dem Kosovo.

8000 Versorgungspakete, jedes gedacht für einen Menschen und einen Tag.Sie enthalten zum Beispiel Grapefruit-Saftpulver, Fruchtreis in Alufolie, Tee-Extrakt, Biskuits, Kaugummi, Konfitüre.Außerdem Dinge wie Wasseraufbereitungstabletten und Streichhölzer.Dinge für Leute, die nichts haben an Orten, wo es nichts gibt.Es ist der erste Hilfsgüterflug der Luftwaffe, und auch Oberstleutnant Vogelsang weiß nicht, was ihn erwartet.

Albanien aus der Luft zeigt sich in Tarnfarben.Grauverschneite Felsgebirge, schlammige Flüsse, lange, braune Straßenfäden - eine mythenfreundliche Landschaft, bis zur belebten Ebene.Dreieinhalb Millionen Einwohner hat das Land, karg ist es und seit zwei Jahren im Blickfeld internationaler Organisationen.Rotes Kreuz, UN, Technisches Hilfswerk, sogar der Bundesgrenzschutz versehen hier Dienste am armen Nachbarn.Ausgerechnet hierhin, - aber wohin sonst? - flüchten drei Viertel aller von Serben vertriebenen Kosovo-Albaner.

Hier sind ihre Brüder und Schwestern, ob zweiten oder vierten Grades spielt keine Rolle.Während die Hilfsorganisationen überfordert an ihrer Logistik arbeiten, das Flüchtlingswerk UN-Mitarbeiter vorbereitet und entsendet, haben die Albaner den unfreiwillig Angereisten schon die Tür aufgemacht.Aber die Tür gehört zu einem schlichten Haus, und der Strom der Ankömmlinge wächst.

Sie fädeln sich durch ein Nadelöhr, eine kleine Straße im Gebirge und landen im Grenzstädtchen Kukes, Zigtausende: zu Fuß, auf Traktoren, Lastwagen, Pferdekarren, in auseinanderfallenden Autos.In Tirana kommen manche Wagen mit durchgewetzten Reifen an, auf den Felgen fahrend.Das hier ist der erste Ort, an den die inzwischen bis zu zwanzig Kilometer langen Konvois gelenkt werden.Sie kommen in den Sportpalast in der Nähe des Stadtzentrums.

Es ist die Notstation, das Gegenteil einer Bleibe.In der von albanischer Miliz geschützten - und bewachten - Halle, übernachten auf Pritschen Hunderte erschöpfter Flüchtlinge.Tagsüber werden die Pritschen zusammengeklappt und gestapelt, die Halle wird ausgewischt, es riecht nach Chlor.

Alle ziehen in die Nachbarhalle um, wo sie auf den Bauten einer Tribüne sitzen - und warten.Hier riecht es nach Großküchensuppe, Schweiß, Urin, Medikamenten.Seit drei Tagen ist Aden Vishaj in Tirana, über sechzig Stunden war er mit seiner Frau und fünf Kindern auf der Flucht.Jetzt sitzt er neben seiner siebenjährigen Tochter Vali auf der Bank einer ehemaligen Umkleidekabine - die Notfall-Kinderstation des Flüchtlingslagers.Vali verschwindet fast unter einer Armeedecke, ihre Haut wirkt glänzend, in den Augen liest man Fieber."Das Kind hat Bronchitis, von der Kälte in den Bergen", erklärt die Ärztin, die mit zwei Helferinnen die "Station" unterhält."Viele der Kinder kommen krank hier an." Aden Vishaj lächelt überraschend gelassen, wenn er nach seiner Flucht gefragt wird.Den großen Traktor hat er gefahren, darum haben sie ihn ziehen lassen, so hatte er Glück, obwohl er doch ein Mann ist, und die Männer der Verfolgung meist nicht entrinnen.Inzwischen hat seine Frau, wie viele andere, mit den vier gesünderen Kindern bei Verwandten in Tirana Unterschlupf gefunden.In Belek im Bezirk Decan, wo sie alle herkommen, lebt nur noch sein Bruder.Der wollte nicht fort.

Was der Bauer aus dem Kosovo erzählt, läßt sich in Zeiten, in denen Kino- und Fernsehfilme die Fantasie bevölkern, kaum begreifen.Auf der Flucht hat er überall am Wegrand Leichen gesehen, viele ohne Kopf, Leichen von Männern, Frauen und Kindern.Manchen habe man, während sie knieten, die Kehle durchgeschnitten.Er zeigt immer noch eine Andeutung von Lächeln.Er ist jetzt sehr müde."Aber wir sind alle gerettet", sagt er.Wir hoffen jetzt auf die NATO, auf Bodentruppen." Bodentruppen ist der magische Begriff, auf den die Kosovaren hier und im Zeltlager am Stadtrand ihre Hoffnung setzen.Bodentruppen, scheinen sie zu glauben, würden alles wieder zusammenfügen, was man ihnen zerrissen hat: Familien, Psyche, Paß.

"Nicht nur Pässe zerreißen die Serben an der Grenze, sondern auch alle anderen Dokumente", sagt Aden Vishaj, Hochzeitsurkunden, Geburtsurkunden, alles.Von Identitäts-Vernichtung hat ein NATO-Mitarbeiter gesprochen.Daß er die Fotos aus seiner Kindheit in der Hetze der Flucht vergessen hat, grämt einen vierzigjährigen Flüchtling ganz besonders."Alle anderen Sachen kann ich mir wieder erarbeiten." Aden Vishaj läßt seine Tochter auf der Pritsche einschlafen und wandert durch die Tageshalle im Sportpalast.Berge bunter, unsortierter Kleidung liegen am Boden, den Menschen auf den zu Wartebänken gewordenen Tribünen sieht man an, daß sie aus traditionellen Dörfern kommen.Die alten Männer tragen weiße Filzhüte, die Großmütter weite, farbige Pluderhosen.Eine Familie hat eine geschnitzte Holzwiege auf dem Lastwagen mitgeschleppt, mit dem Baby darin, das halbschräg zwischen den Bänken steckt.Brote werden auf breiten Brettern umhergetragen und durch die Halle klingt ohne Pause die Stimme eines einheimischen Rot-Kreuz-Helfers: Namen, Namen, Namen.Von Leuten, die hier sind, Leuten, die andere suchen.

Namen zählt auch Selim Dina auf, der bereits vom Sportpalast ins Zeltlager Parku i Madh gelangt ist.Das Zeltlager beherbergt etwa zweitausend Flüchtlinge.Hier kann sich die gelähmte, panische Stimmung zum ersten Mal etwas lösen."Neunzig Prozent der Hilfesuchenden gibt man erstmal Valium", sagt der junge Arzt Arber Berisha, spezialisisert auf die Behandlung von Traumafolgen.Im Paku i Madh fangen die Geflüchteten an, ihre Erinnerungen aneinanderzufügen, über Greuel und Schock zu sprechen.Selim Dina ist 54, er hat am 27.März in seinem Dorf Celina bei Prizren ein schreckliches Massaker miterlebt.

"Naim Rexhepi", sagt er, "Njazi Rexhepi, Devin Rexhepi, Rema Rexhepi, Shyqë Rexhepi ..." Er nennt noch neun weitere.Alle massakriert."Die Serben kamen maskiert", erzählt er, und beschreibt mit Gesten Augenschlitze und Atemöffnung der Masken."Sie haben ihnen Benzin über die Kleider gegossen, und sie angezündet." Der Mann wirkt wir ein Sechzigjähriger, sein braungebranntes Gesicht ist nüchtern, bäuerlich, nüchtern unter der enganliegenden Strickmütze.Er spricht wie ein Zeuge vor Gericht.

Es gibt noch kein Gericht.Es gibt die NATO-Bomber, deren Dröhnen nachts den Luftraum über Tirana beben lassen, anschwellend, abschwellend, immer wieder.Dabei fliegen sie sehr weit oben, klein wie Fixsterne."Wir wollen mehr NATO", erklärt Shakir Kryezins, einer der wenigen jungen Männer im Parku i Madh."Wir wollen selber kämpfen, wir wollen zurück in unser Kosova." (Kosova ist die albanische Form, Kosovo die verhaßte serbische.)

Shakir hatte einen kleinen Laden in Prizrens.Mit vorgehaltener Waffe zwangen ihn Serben von der Terrorgruppe "Schwarze Hände" zur Flucht, fünf Minuten hatten er und seine Familie Zeit.Im Militärzelt sitzen sie auf auseinandergefalteten Pappkartons, auf einem Gelände, das eigentlich Freizeitpark und Schwimmbad sein soll.Soldaten patroullieren, Reporter filmen.Draußen rauscht Tiranas Verkehr.Die großen Wasserbecken sind leer, aber überall spielen die Kinder schon wieder und wird endlich Wäsche gewaschen.Abertausende sind in diesem Moment unterwegs auf die Hauptstadt zu, die noch so wirkt, als könne sie alles bewältigen.Noch.

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