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Durch Wirecard unter Druck: Bundesfinanzminister Olaf Scholz (rechts) und sein Staatssekretär Jörg Kukies.

© imago images/photothek

Olaf Scholz und der Wirecard-Skandal: Früh unterrichtet, aber lange nichts gewusst?

Der Finanzminister legt dar, wie sein Ressort sich in der Causa Wirecard verhalten hat. Der Opposition reicht das nicht. Kommt ein Untersuchungsausschuss?

Erst hat Olaf Scholz gemauert und mit Geheimschutzinteressen argumentiert. Erste Fragen aus dem Finanzausschuss des Bundestags zur Rolle des Bundesfinanzministeriums und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) im Wirecard-Skandal wurden nur sehr knapp beantwortet. Zudem war der Vermerk „VS – Vertraulich“ draufgestempelt. So konnten Abgeordnete das Dokument nur in einem Lesezimmer im Bundestag zur Kenntnis nehmen.

Am Donnerstagabend dann die plötzliche Kehrtwende: Scholz ließ über seine Parlamentarische Staatssekretärin Sarah Ryglewski dem Finanzausschuss ein immerhin einen zwanzigseitigen Sachstandsbericht zukommen, ergänzt um einen Organisationsplan des mittlerweile insolventen Dax- Konzerns, der wohl zeigen soll, welch vertracktes Gestrüpp Wirecard gewesen ist.

Wesentlich schlauer dürften die Abgeordneten auch aus diesem Schreiben nicht geworden sein. Immerhin wurde die VS-Einstufung aufgehoben, die vor allem einem Gespräch des für Finanzmarktfragen zuständigen Staatssekretärs Jörg Kukies mit dem Wirecard-Vorstandschef Markus Braun am 5. November 2019 galt. Nun ist publik, dass das nicht protokollierte Treffen am Konzernsitz in Aschheim in Oberbayern „eine Vielzahl von Themen“ betraf, auch Wirecard selbst und die damals längst bekannten Marktmanipulationsvorwürfe. Und auch die von Wirecard selbst im Oktober 2019 in Auftrag gegebene Sonderprüfung durch das Wirtschaftsberatungsunternehmen KPMG, mit der Vorwürfe der Bilanzfälschung aus der Welt geschafft werden sollten. Einen Monat zuvor hatte Kukies mit Braun bei einer Veranstaltung von Morgan Stanley auf dem Podium gesessen.

Das erste brisante Datum

Scholz selbst und auch seine Führungsriege im Ministerium wussten da natürlich längst, dass Wirecard vielfältig mit Verdacht belegt war: Marktmanipulation bei den Aktien des Technologieunternehmens, Bilanzmanipulation, Insiderhandel, Geldwäsche. Schon seit Jahren gab es Berichte in der Hinsicht über den Konzern, der in vielen Ländern der Welt aktiv ist. Brisant wurde die Sache allerdings auch aus Sicht des Finanzministeriums, als die Bafin am 14. Februar 2019 mitteilte, sie werde wegen mutmaßlicher Marktmanipulation „in alle Richtungen“ ermitteln, also auch gegen Wirecard selbst. Leerverkäufe mit Wirecard-Aktien wurden vier Tage später für zwei Monate untersagt.

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Am Tag darauf wurde Scholz darüber und über die weiteren Bafin-Maßnahmen unterrichtet, zu denen auch ein Auftrag an die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) gehörte, sich die Bilanz von Wirecard mal näher anzuschauen. Die DPR ist keine staatliche, sondern eine als unabhängig eingestufte private Firma, die quasi im Staatsauftrag kontrolliert, wenn die Bafin das verlangt und der Ansicht ist, sie müsse oder dürfe das nicht selber tun.

Da Wirecard nicht als Finanzinstitut eingestuft war, auch wenn der Konzern eine eigene Bank betreibt, lag das nahe. So war Scholz also früh informiert, dass seine eigene Behörde auch gegen Wirecard Untersuchungen führt. Freilich ist das nichts Besonderes – die Bafin-Aktionen standen auch in der Presse.

Das zweite brisante Datum

Eher ist ein zweites Datum in der vom Finanzministerium erstellten Chronologie bemerkenswert: Am 22. Juni 2020 wurde Scholz wieder förmlich über die Causa Wirecard unterrichtet, „mit Darlegung des Geschäftsmodells, aktueller Entwicklungen, aufsichtlicher Zuständigkeiten, von Kreditrisiken und möglicher Handlungsoptionen“, wie es in dem Papier heißt.

An diesem Tag gab Wirecard bekannt, dass ausgewiesene Bankguthaben in Höhe von 1,9 Milliarden Euro wahrscheinlich gar nicht bestünden. Die Formulierung im Sachstandsbericht spricht nicht dafür, dass Scholz bis dahin breitere Kenntnisse von den Vorgängen besaß – und seine Führungscrew offenbar auch nicht darum gebeten hatte.

Damit stellt sich die Frage, warum Scholz fast anderthalb Jahre lang nicht formell unterrichtet wurde, während die Staatssekretäre Kukies und Wolfgang Schmidt (für das Internationale zuständig) noch dienstliche Kontakte mit dem Unternehmen hatten. Kukies soll dem Finanzausschuss allerdings gesagt haben, er habe Scholz informell auf dem Laufenden gehalten. Kukies traf sich, wie gesagt, im November 2019 mit Wirecard-Chef Braun. Einen Tag darauf bat das Finanzministerium die Bafin um eine Stellungnahme zu Analysen der Firma Autonomous Research, in denen es bereits um Scheinumsätze bei Wirecard ging. Die Bafin sah aber keinen zusätzlichen Handlungsbedarf – offenbar überstiegen die neuen Verdachtsmomente die bestehenden nicht wesentlich.

Staatssekretär als Helfer

Zuvor hatte Schmidt im Juni 2019 – also in Kenntnis der Ermittlungen der eigenen Behörde – die Regierung in Peking angemailt, um über das Interesse von Wirecard am Eintritt in den chinesischen Markt zu informieren. Das ist grundsätzlich nicht verwerflich, Unterstützung für deutsche Firmen im Ausland gehört sozusagen zum Geschäft. Aber auch noch im Fall Wirecard? Der Eindruck, den der Sachstandsbericht vermittelt: Trotz der Bafin-Untersuchungen und trotz der breiten öffentlichen Berichterstattung über Wirecard scheint man im Finanzministerium die Causa Wirecard unterschätzt zu haben. Ausweislich des Berichts gab es zwar „eine regelmäßige Befassung mit dem Themenkomplex Wirecard AG zwischen Staatssekretär Kukies, Abteilungsleitung und Fachebene“. Erwähnt werden mehrere Berichte der Bafin an das Ministerium, ohne dass Inhalte skizziert werden.

Chronologie mit Unschärfen

Aus der Chronologie lässt sich nicht erkennen, ob und wie weit sich die Linie des Ministeriums von der ersten Unterrichtung von Scholz an bis ins Jahr 2020 hinein verändert hat. Erst als am 28. April 2020 der für Wirecard fatale KPMG-Bericht veröffentlicht wird, fordert Kukies von Bafin-Chef Felix Hufeld mehrfach Berichte an. Im Mai stellt Kukies klar, dass die Bafin sich bei ihren Maßnahmen auf die Rückendeckung des Ministeriums verlassen könne. Er sagt eine rückhaltlose Unterstützung bei der Aufklärung zu. Gab es die vorher nicht?

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Aus Sicht der Opposition bleibt Aufklärungsbedarf, ein Untersuchungsausschuss wird nicht mehr ausgeschlossen – die Rolle des Bundesfinanzministeriums im Wirecard-Skandal kann sich für Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) zu einem größeren Problem ausweiten. Jedenfalls hat eine Telefonkonferenz von Finanzstaatssekretär Jörg Kukies mit dem Finanzausschuss des Bundestags am Donnerstagabend unter den Abgeordneten von FDP, Linken und Grünen mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.

Opposition will mehr wissen

Auch ein zwanzigseitiger Sachstandsbericht des Ministeriums, in dem aufgelistet ist, wie sich das Scholz-Ressort und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) seit 2014 zu den Verdächtigungen und Berichten über Unregelmäßigkeiten bei dem mittlerweile insolventen Technologiekonzern verhalten haben, genügt der Opposition nicht. „Widersprüchlich und nebulös“ nennt der FDP-Finanzpolitiker Florian Toncar den Bericht des Finanzministeriums. Es blieben „die wesentlichen Fragen im Wirecard-Skandal ungeklärt“. Fragwürdig ist laut Toncar, warum sich die von der Bafin in Auftrag gegebene Bilanzprüfung mehr als ein Jahr hinzog.

Laut Toncar hat das Scholz-Ressort die Vorwürfe gegen Wirecard nicht erkannt, obwohl es weitaus intensiver und häufiger mit dem Unternehmen beschäftigt gewesen sei, als bisher bekannt. Der Linken-Finanzexperte Fabio de Masi machte deutlich, dass die Reform der Finanzaufsicht (die Scholz schon angekündigt hat) nicht genügt: „Es drängt sich zunehmend der Eindruck auf, dass wir an einem Untersuchungsausschuss nicht vorbei kommen und die politischen Verbindungen von Wirecard ausleuchten müssen.“ Der Grünen-Politiker Danyal Bayaz kritisierte, Scholz sei einer Diskussion im Bundestag bislang aus dem Weg gegangen.

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