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Politik: Pätzels Grenzerfahrung

Abkommandiert zum Brandenburger Tor – ahnungslos und voller Angst: Die Erlebnisse eines Wehrdienstleistenden an der Mauer

Die Sirene reißt auch den Letzten aus dem Schlaf, das ist ihr Zweck. Wovon die jungen Rekruten gerade noch träumten, wenn sie träumten, vorbei. Ein Soldat hat bei Alarm zu funktionieren.

Es ist die Nacht vom 9. zum 10. November 1989, Berlin ist außer Kontrolle geraten, aber Berlin ist weit weg von hier, von dieser NVA-Kaserne in Perleberg, 150 Kilometer weit weg, Richtung Südosten. Es herrschte Ruhe, Nachtruhe, keiner der Soldaten hatte am Abend die „Aktuelle Kamera“ gesehen, auch der Wehrdienstleistende Enrico Pätzel nicht. Dann also, gegen halb drei, der Gefechtsalarm. Eine halbe Stunde, um den Seesack zu packen. Danach in die Waffenkammer und raus in die Mannschaftswagen, die Kalaschnikow auf den Knien.

Es ist dunkel draußen, dunkel ist es auch unter den fensterlosen Planen auf der Ladefläche des Lastwagens. Er poltert monoton über die Betonplatten der Autobahn. Auf den langen Bänken erkennen die Soldaten kaum ihr Gegenüber. Das ist keine Übung. Bloß nicht einschlafen. Es geht in die Hauptstadt.

Man wusste nicht viel in so einer Kaserne. Private Radios waren nicht erlaubt, Karl-Eduard von Schnitzlers Agitatorenfernsehsendung „Der schwarze Kanal“ gehörte zum Pflichtprogramm. Doch etliche Perleberger Soldaten, Offiziersschüler, waren in den letzten Wochen abkommandiert worden, das wusste man. Sie sollten die Grenzen zu Polen und die zur Tschechoslowakei bewachen, als seien es nicht mehr die Grenzen zu Bruderländern, sondern zum Westen.

Das war ihm erspart geblieben, doch nun sitzt Enrico Pätzel mitten in der Nacht in einem zugigen Mannschaftswagen und fährt – zum letzten Gefecht? Die erste Station ist eine Kaserne in Pankow. Absitzen. Rast im Kasernenkino. Lange Reihen mit Klappsitzen aus Holz. Pätzel legt sich dazwischen auf den Boden und schläft. Wie lange er da mit seiner Truppe herumhing, sagt Pätzel, damals 18 Jahre alt und seit zwei Monaten bei den Grenztruppen, weiß er heute nicht mehr. Auch nicht, welche Filme in dem Kino liefen.

Irgendwann der Befehl: Aufsitzen. Weiterfahren. Als sie am Brandenburger Tor ankommen, ist es schon wieder novemberdunkel. Enrico Pätzel wäre lieber zur Bösebrücke an der Bornholmer Straße gefahren, nicht, weil da die Mauer auf so beeindruckende Weise fiel, das wusste er ja noch nicht. Aber in seiner Erinnerung war das die Schnittstelle zum Westen; da wurde immer die Oma abgeholt, wenn sie die Tante im Wedding besucht hatte.

Auf der Mauer, die am Brandenburger Tor einige Meter breit ist, gebaut als Panzerwall, stehen Hunderte. Viele Stunden hatte der Staat, auf dessen Gebiet das Brandenburger Tor und der Wall stehen, zugesehen, wie aus den Befestigungsanlagen vor dem Tor eine historische Partyzone wurde. Die Bilder waren längst um die Welt gegangen, doch das soll jetzt ein Ende haben.

Wasserwerfer der Volkspolizei, die Enrico Pätzel vorher noch nie gesehen hatte, hergestellt von Mercedes, fahren durch das Tor und zielen auf die Partygäste. Ein Trupp älterer Offiziersschüler und Soldaten vom Staatssicherheits-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ legen Leitern an den Panzerwall, klettern hinauf und vertreiben die Feiernden unsanft, aber ohne Waffen. Die Kalaschnikows liegen in den Lastwagen. Während alle Grenzübergänge längst „geflutet“ wurden und so die Mauer ihre Funktion ein für allemal verloren hatte, wird das Brandenburger Tor zurückerobert. Das ist es dann wohl, das letzte Gefecht, oder das vorletzte.

Enrico Pätzel steht seit Stunden in unmittelbarer Nähe des Tores. Er war hier noch nie. Und er freut sich. Wer kommt hier schon mal hin? Was sich im Westen, hinter dem Wall, abspielt, kann er nur ahnen. Unzählige Flaschen landen auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik. Er hört Gejohle, Rufe, Pfiffe. Nach einigen Stunden erfolgt der Befehl, die Zurückeroberer des Panzerwalls abzulösen.

Er klettert hinauf, mit weichen Knien. „Das ist wie eine Bühne“, sagt er heute, 38 Jahre alt, Rechtsanwalt in Berlin-Charlottenburg, und grinst. „Was erwartet einen da oben? Dort auf die Bühne zu klettern, das ist, wie wenn der Vorhang aufgeht.“ Nur, dass es keinen Applaus gibt. Pätzel steht auf dem Wall, in der Postenkette, Abstand zum Nebenmann ein Meter. Vor ihm Tausende ausgelassener Menschen. Wohin bloß mit den Händen, in die Hosentaschen, nein, unmöglich, am besten hinter den Rücken und im Koppel einhaken. Grimmiger Blick, bloß nicht anmerken lassen, dass einem das Herz in die Hose gerutscht ist.

Kaum einer von denen da oben ist älter als 20. Warum hat eigentlich niemand in diesen Stunden den Dienst quittiert, fragt sich Pätzel heute. Ein Schritt nach vorn, ein Sprung, und man hätte alles hinter sich lassen können. Eigentlich ohne Risiko. Dass der Staat, für den sie hier stehen, bald nicht mehr existieren würde, kann sich keiner vorstellen. Alles hinter sich lassen? Für immer?

Auf der Mauer sind sie das Hassobjekt, und die, die böse Worte zu der starr wirkenden, tatsächlich aber tief verunsicherten Macht hinaufwerfen, sind weder nüchtern noch friedlich. Ein alter Mann ruft: „Gebt mir ein Gewehr!“ Was, wenn der tatsächlich an ein Gewehr käme? Mit Erstaunen registriert Pätzel, wie eine der über den Wall geworfenen Sektflaschen in der Panzerung des Wasserwerfers hinter ihm eine Beule hinterlässt. Sogar eine Spitzhacke wird auf den Wall geschleudert. Sie ziert in den nächsten Monaten den Flur der Kaserne – ein Souvenir vom Brandenburger Tor. Mit den Stunden legt sich die Spannung, die Nachbarn in der Postenkette reden jetzt miteinander. Auf der Westseite hat die Polizei Absperrgitter aufgestellt.

Südlich des Tores, da wo der Panzerwall aufhört und in die sonst übliche Mauerkonstruktion übergeht, beginnt am Nachmittag ein letztes symbolisches Gefecht. Von der Westseite aus machen sich welche mit dem Schneidbrenner an der Mauerkrone zu schaffen. Die Grenztruppen beobachten das nur noch. Etwa in Hüfthöhe ist der Beton von Mauerspechten bereits bis auf das Eisengitter im Innern weggemeißelt worden. Dann legt jemand ein Seil um dieses Betonteil – etwas mehr als einen Meter breit und vielleicht drei Meter hoch –, um es nach und nach zu lockern. Das Stahlgitter im Innern wirkt wie ein Scharnier und hält das tonnenschwere Mauersegment – noch. Wann fällt es, und vor allem: wohin? Pätzel gehört zu den zehn, zwölf Soldaten, die das Mauerstück auf der Ost-Berliner Seite mit ihren Körpern abstützen. Schließlich gibt die Stahlarmierung nach, und das Segment kippt langsam auf die Westseite und bleibt schräg in der Luft stehen, weil es jemand mit einer Holzbohle abstützt. Ein West-Berliner Polizist sichert später das Loch in der Mauer. Jemand stiehlt ihm die Mütze. In dem Durcheinander steckt sich Pätzel zwei Mauerstückchen in die Hosentasche. Erst kurz vor Weihnachten wird an dieser Stelle ein Grenzübergang eingerichtet.

Zurück in der Kaserne ist nach den Tagen in Berlin nichts mehr wie vorher. Radios und Kassettenrekorder sind nun erlaubt. Die Lautsprecheranlage der Kaserne ist verstummt. Die Soldaten hören Pätzels Pink-Floyd-Kassette, „Shine On You Crazy Diamond“ wird der Hit in ihrer Stube. In ihrer freien Zeit spielen sie Monopoly. Da hatte einer der Kameraden sein Begrüßungsgeld vorausschauend investiert.

Ende Januar 1990 werden die Soldaten auf andere Standorte verteilt. Pätzel kommt nach Stolpe, im Nordwesten Berlins. Er hat es nicht weit nach Hause und wird „Heimschläfer“: Er darf die Kaserne nach Dienstschluss verlassen. Das wäre früher undenkbar gewesen. Doch immer noch gilt der Wehrauftrag, an den sich der Standortkommandant bis zur letzten Stunde klammert.

Die Grenze aber, die Pätzel nun zu bewachen hat, ist ein Witz. Mauerteile fehlen, jede Nacht werden irgendwo die Bolzen zwischen Betonpfosten und Drahtzaunelementen gelöst. Die wenigen Grenzsoldaten, die noch in der Kaserne Dienst tun, müssen jeden Tag raus und sie wieder festschrauben – Befehl ist Befehl. Schon hatten West-Berliner Familien und ihre Hunde den Mauerstreifen als neues Auslaufgebiet entdeckt. Und eignete sich das freie Gelände nicht auch ganz wunderbar zum Drachensteigen?

Unteroffizier Enrico Pätzel, inzwischen 19 Jahre alt, fährt Streife im Grenzgebiet. Es ist ein Freitag im Frühsommer, und vor ihm liegt ein freies Wochenende. Er lässt anhalten, steigt aus dem Trabant-Kübelwagen aus und schlendert mit seinem Fahrer hinüber zu der Familie, die dort mit Hund und Drachen das Grenzgebiet zweckentfremdet. Sein Käppi klemmt im Gürtel, das ist nicht vorschriftsmäßig, aber ist das noch wichtig? Außerdem ist es warm. Die Grenzverletzer sind nett und man kommt schnell ins Gespräch, auch über den Drachen. Es ist ein Lenkdrachen, er hängt an zwei Schnüren, und mit ein bisschen Übung kann man ihn in der Luft tanzen lassen. Ob er nicht auch mal probieren wolle, fragt ihn der Familienvater.

Warum nicht? Es macht Spaß – bis Pätzel einen Zweitaktmotor hört. Das Geräusch kommt näher. Noch eine „Grenz-Pappe“, ein Trabi der Grenztruppen. Das Verdeck ist geschlossen, der Wagen hält. Es steigt aus: der Genosse Major, Standortkommandant, und sein Fahrer, der Hauptfeldwebel. Und Pätzel steht da mit zwei Schnüren in der Hand, an deren Ende der Drachen zappelt.

Der Major brüllt über den Grenzstreifen. Pätzel und sein Fahrer eilen hinüber. Militärische Haltung, der vorschriftsmäßige Gruß, die rechte Hand am Käppi, das sie sich auf dem Weg hinüber zum Major noch schnell aufgesetzt haben. Es folgt ein Donnerwetter, es fällt ein Unheil ankündigendes Wort: „Grenzdienstverweigerung“. Pätzels Schicht wird auf der Stelle beendet, ab in die Kaserne, ins „Objekt“. Er muss einen langen Bericht schreiben über sein Dienstvergehen. Zumindest das freie Wochenende steht auf dem Spiel. Spät abends kann er dann doch nach Hause fahren: mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert. Nach einer Woche wird er wieder in die Kaserne bestellt – und degradiert.

Jetzt ist er also wieder Gefreiter, wie im Herbst 1989, als er, 18-jährig und mit frischem Abiturzeugnis in der Tasche, seinen Wehrdienst bei den Grenztruppen der DDR begann. Die Geschichte mit dem Drachen hat Enrico Pätzel ein paar 100 Mark seines Solds gekostet, zuerst in Mark der DDR, die letzten beiden Monate seines Wehrdienstes in D-Mark. Einen Lenkdrachen hat er seitdem nicht wieder angefasst.

Uwe Soukup

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