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Ein Österreichischer Grenzer öffnet während des Picknicks ein Grenztor (Aufnahme vom 19. August 1989).

© picture-alliance/ dpa

Paneuropäisches Picknick in Sopron 1989: Der Tag, an dem der Mauerfall begann

Vor 30 Jahren ließ Ungarn Hunderte DDR-Bürger nach Westen fliehen. Es war auch ein Test, was möglich wäre, ohne eine Intervention zu riskieren. Eine Erinnerung.

Wann hat je zuvor ein Picknick die Weltgeschichte verändert? Dass das möglich ist, darauf konnte auch im August vor 30 Jahren niemand mit Gewissheit setzen. Aber es gab Mutige, die es versuchten. Sie schufen eine "Sternstunde der Menschheit" ganz im Sinne Stefan Zweigs.

Nach außen sah es aus wie eine vorsichtige Annäherung im Geiste der Entspannungspolitik zwischen Ost und West. Der Europaabgeordnete Otto von Habsburg und der ungarische Reformsozialist Imre Pozsgay luden Bürger aus Österreich und Ungarn am Wochenende des 19. und 20.Augusts 1989 zu einem "Paneuropäischen Picknick" auf dem Grenzstreifen bei Sopron.

Offiziell ging es um Kennenlernen und Entspannung an einer Grenze, die durch mehrere hintereinander gestaffelte Stacheldrahtzäune gesichert war und an der vielerorts auf Flüchtende geschossen wurde. Zugleich war es ein Test, was unter dem noch relativ neuen Kremlherrn Michail Gorbatschow und seiner Formel von "Glasnost" und "Perestrojka" möglich war, ohne eine militärische Intervention zu riskieren – wie 1956 in Ungarn, 1968 in Prag und 1981 in Polen.

Die Grenzer schossen nicht

Zwei Tage später wusste die halbe Welt, dass der "Eiserne Vorhang" Löcher bekommen hatte. An jedem der beiden Tage nutzten hunderte DDR-Bürger das Picknick zur Flucht in den Westen. Die Grenzer ließen sie gewähren, schossen nicht. Für diese ersten Nutznießer der Gelegenheit wurde das Picknick zu einem "Spaziergang in die Freiheit".

Hunderte andere wurden jedoch damals zurückgewiesen - weil sie zu spät dran waren oder in einer kleinen Gruppe einer bewaffneten Grenzstreife in die Arme liefen wie Gina und Thomas aus Magdeburg mit dem dreijährigen Fabian und der zehn Wochen alten Lore. Sie schafften es erst im vierten Anlauf in den Westen, mussten nach jedem Scheitern neue Energien sammeln. Die Freiheit ist ein Ventil, das man behutsam öffnen muss. Das war den Menschen, die in einer Diktatur aufgewachsen waren, sehr bewusst. Zu viel Freiheit auf einmal kann zum Risiko werden und ungewollte Dynamiken entfalten.

Im Rückblick weiß man: Drei Wochen später, am 10. September 1989, öffnete Ungarn seine Grenze nach Westen ganz offiziell. Niemand musste mehr illegal über die grüne Grenze fliehen. Und keine drei Monate später, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer. Ungarn hatte mit der Grenzöffnung den entscheidenden Stein herausgebrochen. Und öffnete damit gleichzeitig für sich selbst den Weg, um sich aus dem Warschauer Pak in den Westen abzusetzen. Am Ende des Sternstundenjahrs 1989 war der Ostblock auseinandergebrochen.

Wer damals in Budapest und an der Grenze zu Österreich war, ahnt auch: Das Picknick und seine Folgen waren keine zufälligen Ereignisse. Sie waren hinter den Kulissen vorbereitet worden. Unter fluchtwilligen DDR-Urlaubern in Ungarn kursierten Karten vom Grenzgebiet auf DIN-A-4-Kopierpapier, wie es damals nur in westlichen Botschaften verwendet wurde.

Am Grenztor, durch das DDR-Bürger an den beiden Picknick-Tagen in die Freiheit spazierten, wurden auch Angehörige der westdeutschen Botschaft in Ungarn gesichtet. Und wer sich als Reporter mit Flüchtenden auf den Weg durch den Grenzstreifen machte, dem wurde rasch klar: Hier kommt niemand unbemerkt durch, den die Ungarn nicht durchlassen wollen.

Dazwischen lagen bange Tage und ein Toter

Zwischen dem "Paneuropäischen Picknick" in Sopron und der Grenzöffnung aber lagen bange Tage, in denen die DDR viele Hebel in Bewegung setzte, um Ungarn wieder auf das martialische Grenzregime mit Schießbefehl zu verpflichten. Wochen, in denen es zu einem Toten an der ungarisch-österreichischen Grenze kam, weil Fliehende sich den Grenzern physisch widersetzten und sich im Handgemenge ein Schuss löste. Doch es gelang Politkern, Diplomaten und Hilfsorganisationen, den Freiheitsdrang in beherrschbare Bahnen zu lenken. Das war die große Leistung im Sommer 1989.

Spaziergang in die Freiheit, aber nur für 600 DDR-Bürger. Wer später über die Grenze wollte, wurde beim Paneuropäischen Picknick bei Sopron am 19. August 1989 zurückgewiesen,
Spaziergang in die Freiheit, aber nur für 600 DDR-Bürger. Wer später über die Grenze wollte, wurde beim Paneuropäischen Picknick bei Sopron am 19. August 1989 zurückgewiesen,

© Votava/dpa

Politiker, Diplomaten und Hilfsorganisationen baten um Geduld und Vernunft. In der Kirchengemeinde "Zur heiligen Familie" im Budapester Stadtteil Zugliget richtete Pfarrer Imre Kozma ein Zeltlager ein, das die Malteser betreuten - damit Fluchtwillige nicht weiter zur Grenze strömten, sondern auf eine diplomatische Lösung warteten. Diplomaten der Bundesrepublik stellten provisorische West-Pässe aus. Mit denen konnten die DDR-Bürger zwar zunächst noch nicht ausreisen, aber sie hielten schon mal ein kleines Stück Freiheit in Händen und waren bereit, sich zu gedulden.

Zwischen Bonn und Budapest setzte ein reger Austausch ein: Mit welchen Hilfszusagen konnte die Bundesregierung Ungarn die Entscheidung erleichtern, sich aus dem Ostblock zu lösen? Und natürlich ging es um permanente Rückversicherung in Moskau, wie weit man gehen konnte, ohne eine Intervention der Zehntausenden Sowjetsoldaten in Ungarn zu riskieren.

Verdruckste Erinnerung

Gemessen an der historischen Bedeutung des "Picknicks" von Sopron wirkt der Rückblick in Deutschland auf diese Sternstunde vor 30 Jahren merkwürdig verdruckst. Gewiss doch, es ist bedauerlich, dass die beiden Länder, die 1989 am meisten zu den friedlichen Veränderungen in Europa beigetragen haben, Ungarn durch die Grenzöffnung und Polen mit der unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc, heute nationalpopulistische Regierungen haben. Mit einem Viktor Orban und einen Jaroslaw Kaczynski feiert man nicht ganz so gerne wie mit den wahren Helden von damals.

Viele, die damals die Weichen stellten, sind bereits gestorben: der damalige Staatsminister Imre Pozsgay, der mit Otto von Habsburg das Picknick inszenierte; Gyula Horn, der Ende Juni 1989 als ungarischer Außenminister mit seinem österreichischen Kollegen Alois Mock vor laufenden Kameras einen von mehreren Grenzzäunen mit der Drahtschere durchschnitten hatte - ein Symbolbild, das bei vielen DDR-Bürgern Hoffnungen weckte. Und das sich in der Erinnerung bei manchen angeblichen Zeitzeugen mit den tatsächlichen Abläufen des Picknicks von Sopron vermischt, ohne das dies den Redaktionen, die diese "Erinnerungen" verbreiten, auffällt. Beim Picknick spielte dem Horn keine Rolle und wurde auch keine Grenzzäune durchschnitten.

Aber da wäre, zum Beispiel, noch Miklos Nemeth, Ungarns Ministerpräsident von 1988 bis 1990. Den 71-jährigen, bescheiden auftretenden Sohn eines Kleinbauern könnte Deutschland 30 Jahre danach noch einmal besonders ehren.

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