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Vor Pilatus erklärt der Herr: "Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege." (Joh. 18,37)

© Reuters

Papst Franziskus und die Türken: Vom Umgang mit historischer Schuld

Papst Franziskus und die Türken zoffen sich wegen des Völkermords an den Armeniern. Die Deutschen indes entsorgen ihre Vergangenheit inzwischen schleichend. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Historie und Hysterie liegen oft eng beieinander. Geschichte und Gerichte auch. Papst Franziskus hat über die Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern vor hundert Jahren im Osmanischen Reich gesagt, das sei eine Tragödie gewesen, die von den meisten Experten als „erster Völkermord des 20. Jahrhunderts“ betrachtet wird. Auch Johannes Paul II. hatte im Jahre 2001 den Begriff „Genozid“ für dieses Verbrechen benutzt. Damals wie heute schnaubte die Regierung in Ankara viel Wut. Feindschaft und Hass würden geschürt, hieß es.
„Wo es keine Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunden offen.“ Auch das hat Papst Franziskus gesagt. Denn der harte, ungeschönte Blick zurück fällt nicht allein Türken schwer. Für viele Chinesen liegen die Nerven beim Thema Tibet blank, viele Russen mögen nichts über den Holodomor hören – die durch Stalin verursachte Massenhungersnot in der Ukraine im Winter 1932/1933, der mindestens drei Millionen Menschen zum Opfer fielen, viele Franzosen blenden noch immer die Kollaboration eines Teils ihrer Bevölkerung mit der deutschen Besatzungsmacht aus, und in Deutschland vermeiden es die meisten, aus Angst vor einer Vereinnahmung durch rechtsextreme Spinner, die Flächenbombardements der Alliierten auf Großstädte wie Dresden und Hamburg ein Kriegsverbrechen zu nennen.

In dieser Lesart wird die Vergangenheit zwar nicht verleugnet, aber sie gesichtslos gemacht

Dabei waren es gerade die Deutschen, die bei der Aufarbeitung der Geschichte gewisse Maßstäbe zu setzen schienen – und zwar im Guten (Mauerfall-Jubiläum) wie im Bösen (Holocaust-Gedenktag). Doch das ändert sich. Die Glücks- und Schattenseiten der deutschen Vergangenheit werden nun schleichend entsorgt, indem man sie aufgehen lässt in einem europäischen Einheitsnarrativ. Siebzig Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im Deutschen Nationaltheater in Weimar, Europa verneige sich vor den Opfern. Der Holocaust sei Teil des deutschen, aber auch des europäischen Bewusstseins. „Unsere kollektive europäische Identität erwächst aus dem gemeinsamen Erinnern unserer zuweilen barbarischen Geschichte.“
Der Nationalsozialismus – eine europäische Barbarei? Das muss in den Ohren vieler Holländer, Dänen, Polen, Griechen und Tschechen wie Hohn klingen. In dieser Lesart wird die Vergangenheit zwar nicht verleugnet oder verdrängt, aber sie wird entstaatlicht, nivelliert, gesichtslos gemacht. Martin Schulz hielt am 9. November 2014 auch die Festansprache zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. Der Vorzeigeeuropäer verdrängte die Revolutionshelden. Auch damals war mehr von europäischer Einigung die Rede als von deutscher Widerständigkeit.
Ferdinand Lassalle prägte 1863 das Motto: „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen, was ist. Alle Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln, was ist.“ Die Bundesregierung will nun ebenfalls nicht den Begriff „Völkermord“ für die Verfolgung der Armenier verwenden. Diese Formulierung war in den ursprünglichen Anträgen von Union und SPD für die Bundestagsdebatte am 24. April zwar enthalten, wurde aber auf Druck der Fraktionsspitzen und des Auswärtigen Amtes gestrichen. Grüne und Linke halten, wie der Papst, daran fest. Bisweilen ist Feigheit der Preis falsch verstandener Diplomatie.

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