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In der Türkei wird ein neues Parlament gewählt.

© dpa/EPA/Tolga Bozoglu

Update

Parlamentswahl in der Türkei: Regierung und Opposition bezichtigen sich der Manipulation

Die Türken entscheiden heute über ein neues Parlament. Die wichtigste Frage dabei ist, ob die prokurdische HDP die Zehnprozenthürde nimmt. Falls ja, wäre der Plan von Präsident Erdogan und dessen islamisch-konservativer AKP für die Einführung eines Präsidialsystems erst einmal geplatzt.

Die heftigen politischen Spannungen in der Türkei vor der Parlamentswahl haben sich auch am Wahltag am Sonntag selbst bemerkbar gemacht: Opposition und Regierung beschuldigten sich schon kurz nach Öffnung der Wahllokale gegenseitig der Wahlmanipulation. Erste Ergebnisse der Wahl, die über die politische Zukunft von Präsident Recep Tayyip Erdogan entscheidet, werden am Abend erwartet. Beobachter sprachen von einer hohen Beteiligung.

Kurz vor der Wahl waren bei Bombenexplosionen während einer Wahlveranstaltung der Kurdenpartei HDP zwei Menschen getötet worden. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte am Sonntag, ein Verdächtiger sei inzwischen festgenommen worden. Vor den Explosionen waren ein HDP-Fahrer erschossen und zwei Wahlbüros der Kurdenpartei mit Bomben angegriffen worden.

Verluste für Regierungspartei AKP erwartet

Der HDP kommt bei der Wahl eine Schlüsselrolle zu. Wenn sie den Sprung über die Zehnprozenthürde ins Parlament von Ankara schafft, könnte die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von Davutoglu und Präsident Recep Tayyip Erdogan ihre Regierungsmehrheit im Parlament verlieren. Umfragen sagen der AKP ein Ergebnis um die 40 Prozent voraus, weit weniger als die knapp 50 Prozent bei der Wahl von 2011.

Damit dürfte die AKP zwar stärkste Partei bleiben, doch ihr Sitzanteil im Parlament könnte bei einem Parlamentseinzug der HDP unter die absolute Mehrheit von 276 Sitzen rutschen. Erdogan hat als Wahlziel der AKP die Marke von 330 Abgeordneten genannt: Mit dieser Dreifünftel-Mehrheit könnte die AKP eine Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei einleiten. Erdogan will sich als Präsident zusätzliche Vollmachten geben lassen, was von der Opposition als Schritt in die Diktatur gesehen wird. Bleibt die AKP unter 330 Abgerodneten, ist Erdogans Vorhaben gescheitert.

Erdogans Plan hat der HDP zusätzliche Unterstützung von Wechselwählern eingebracht, die mit einer Stimmabgabe für die Kurdenpartei die Präsidialpläne des 61-Jährigen verhindern wollen. Gleichzeitig wurden Verluste der AKP bei islamisch-konservativen kurdischen Wählern für möglich gehalten, weil Erdogan sich im vergangenen Jahr geweigert hatte, den kurdischen Verteidigern der nordyrischen Stadt Kobani gegen die Belagerer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zur Hilfe zu kommen.

Zwei Umfragen kurz vor dem Wahltag hatten einen Parlamentseinzug der HDP vorausgesagt. Es wäre das erste Mal, dass in der Türkei eine Kurdenpartei direkt ins Parlament gewählt wird; bisher waren Kurdenpolitiker stets als Einzelkandidaten in die Volksvertretung gelangt.

Sollte die seit dem Jahr 2002 regierende AKP das Zielergebnis von mindestens 330 Sitzen verfehlen oder gar die Regierungsmehrheit verlieren, werden die Partei und Erdogan als Wahlverlierer gelten, auch wenn die AKP stärkste politische Kraft bleibt. Die säkularistische CHP kann mit rund 25 Prozent der Stimmen rechnen, die nationalistische MHP mit 15 Prozent. Keine andere Partei hat Chancen auf ein Ergebnis von mehr als zehn Prozent.

Gegenseitige Vorwürfe

Kurz nach Wahlbeginn am Sonntag berichteten Anhänger der HDP, in einigen Wahllokalen seien Wahlbeobachter nicht zugelassen worden. An mehreren anderen Orten fanden Wahlbeobachter der Opposition nach eigenen Angaben bereits ausgefüllte und versiegelte Stimmzettel für die AKP vor. Zudem gab es Meldungen, wonach syrische Flüchtlinge zur Stimmabgabe für die AKP in die Wahllokale gebracht worden seien. Im Istanbuler Stadtteil Kagithane wurden demnach drei Syrer bei der illegalen Stimmabgabe erwischt. Eine Bestätigung der Behörden lag nicht vor.

Berichte, wonach die rund zwei Millionen Syrer in der Türkei als Stimmvieh für die AKP benutzt werden sollten, hatten im Vorfeld der Wahl die Befürchtungen der Opposition verstärkt, die Regierung wolle beim Wahlergebnis nachhelfen. Wahlleiter Sadi Güven erklärte, Aufenthaltspapiere von Syrern würden vom elektronischen Wahlsystem nicht erkannt, weshalb ein Missbrauch ausgeschlossen sei. Die Wählerlisten seien absolut verlässlich.

Auch die Regierungsseite meldete Versuche, das Wahlergebnis zu verfälschen. So schrieb Erdogan-Berater Mustafa Varank auf Twitter, insbesondere im Kurdengebiet würden viele Frauen illegalerweise von ihren Ehemännern in die Wahlkabinen begleitet. Laut einem anderen Regierungsanhänger soll ein HDP-Helfer in einem Wahllokal gleich mehrere Wahlzettel für die Kurdenpartei ausgefüllt haben.

Mehrere zehntausend Freiwillige wollten die Stimmabgabe und die anschließende Simmenauszählung überwachen. Insbesondere wegen mutmaßlicher Manipulationen zugunsten der AKP bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr hatten mehrere Organisationen und Oppositionsparteien zur Wachsamkeit aufgerufen. Die Anwaltskammer richtete eine Telefon-Hotline für Beschwerden über mutmaßliche Manipulationsversuche ein.

Bei den Wahlen im vergangenen Jahr hatten unter anderem plötzliche Stromausfälle während der Stimmenauszählung den Vorwurf ausgelöst, die Behörden hätten zugunsten der AKP in den Wahlprozess eingegriffen. Energieminister Taner Yildiz sagte am Sonntag, sein Ministerium werde bis zum Montag die Stromversorgung im Land ganz besonders genau überwachen. Dennoch fiel im Verlauf des Wahltags in mehreren Istanbuler Stadtteilen der Strom aus.

Insbesondere in dem Fall, dass die HDP an der Zehnprozenthürde scheitert, könnte die Türkei vor neuen gewalttätigen Protesten stehen. Angesichts der Vorwürfe der Wahlmanipulation an die Regierung und den Anschlägen auf die Kurdenpartei im Wahlkampf rechnen einige Beobachter mit neuen Kurdenunruhen, wenn die HDP nicht ins Parlament kommt.

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