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Die Putin'sche Machtvertikale gerät ins Wanken.

© Gathmann

Parlamentswahlen: Russlands Mittelschicht hat Putin satt

Die Parlamentswahlen in Russland werden an diesem Sonntag nicht in Moskau entschieden. Sondern in Provinz-Orten wie Kaluga, das vom Aufschwung profitiert. Trotzdem laufen hier der Kreml-Partei die Anhänger davon.

Mädchen und Jungen in bunten Folklore-Kostümen tanzen einen Reigen der Harmonie: Auf der Bühne der Philharmonie von Kaluga singen sie vom Regenbogen über der Stadt, vom Sternenregen, vom Birken-Morgengrauen. Dann erscheinen zwei Moderatoren: „In unserer Stadt gibt es nicht nur neue Investoren, sondern auch eine politische und wirtschaftliche Entwicklung, die jedem von uns beweist?“, und für einen kurzen Moment steht ein Fragezeichen mächtig im Raum. So mächtig, dass sie jetzt im Duett antworten: „Dass Kaluga die beste Stadt der Welt ist!“ Müdes Klatschen ist zu hören aus den Sitzreihen.

In der siebten Reihe rechts, umgeben von Beamten in dunklen Anzügen, sitzt jener, der die Antwort schon vorher kannte: Anatolij Artamonow, seit elf Jahren Gouverneur des Gebietes Kaluga. Kein Haudrauf wie Putin ist er, nein, trotz seiner 59 Jahre hat er etwas Sanftes, Jungenhaftes - so könnte Dmitrij Medwedjew in 15 Jahren aussehen. Für seine Partei Einiges Russland ist Artamonow so eine Art Ludwig Erhard von Kaluga. Und auch in den Augen der Bundesregierung: Vor ein paar Wochen hat der deutsche Botschafter ihm das große Verdienstkreuz mit Stern überreicht.

Man muss ein paar Jahre zurückblicken, um zu verstehen, was in diesem Gebiet passiert, das etwa zwei Autostunden südwestlich von Moskau liegt, etwas kleiner als Baden-Württemberg, aber nur von einer Million Menschen bewohnt ist. In Kaluga, der Hauptstadt der Region, wurden bis 1991 Turbinen, Motoren und Elektronik für sowjetische Raketen und Flugzeuge hergestellt. Mit dem Ende der Sowjetunion war da nur noch ein tiefes Loch. Aufträge der Rüstungsindustrie blieben aus, die Menschen verarmten, der Stadt fehlte das Geld, um Kindergärten, Schulen, Straßen zu erhalten.

Die Auferstehung beginnt am 29. Mai 2006, als der Volkswagen-Konzern sich entschließt, vor der Stadt ein Werk zu bauen, für eine halbe Milliarde Euro und für 3000 Arbeiter. Es folgen Samsung, Volvo, Peugeot und Berlin-Chemie, gerade erst hat Continental den Grundstein für ein Werk gelegt, in dem der deutsche Konzern vier Millionen Reifen im Jahr produzieren will. Das Gebiet lockt ausländische Investoren mit Steuervergünstigungen und fertiger Infrastruktur.

Und es zahlt sich aus. Das Haushaltsbudget der Stadt wuchs in den letzten Jahren um das Fünffache, die Fabrikarbeiter verdienen um die 600 Euro, mehr als das Doppelte wie vor fünf Jahren. Kaluga ist ein Modell für wirtschaftlichen Aufschwung. Wo, wenn nicht hier, müsste die Partei Einiges Russland, die seit einem Jahrzehnt treu den Kurs des ehemaligen und wohl zukünftigen Präsidenten Wladimir Putin stützt, bei den Parlamentswahlen am Sonntag einen grandiosen Sieg einfahren?

Doch wer sich umhört, der spürt, dass der Partei die Felle davonschwimmen.

Mit wachsendem Wohlstand weigern sich die Russen, das paternalistische Regierungsmodell zu akzeptieren, das ihnen Putin und Einiges Russland bieten. Was im reichen Moskau schon vor fünf Jahren passiert ist, vollzieht sich jetzt in den Regionen – die Entstehung einer selbstbewussten Mittelschicht.

Der Blogger Alexej Nawalny ist mit seinen Antikorruptionskampagnen zum Helden dieser Schicht geworden, er hat Einiges Russland in „Partei der Gauner und Diebe“ umgetauft, von ihm stammt jene Strategie, die sich verbreitet wie ein Lauffeuer: Zur Wahl gehen und für irgendeine Partei stimmen, aber nicht für Einiges Russland. Denn Siege konnte die Partei auch deshalb einfahren, weil die meisten oppositionell gestimmten Wähler lieber zu Hause blieben. An den Kommunalwahlen in Kaluga im letzten Herbst haben nur 16 Prozent der Wähler teilgenommen.

„Herr Präsident, die Partei der Gauner und Diebe gefällt uns nicht. Mit ihnen gibt es keine Zukunft“, sagt eine Frauenstimme, wenn das Handy des Bloggers Alexander Wassiljew klingelt. In einem Wollpullover und Jeans sitzt der 43-Jährige im Pub 102 im Zentrum der Stadt. Wassiljew war in den 90er Jahren bei einem Journalistenprogramm an der Freien Universität Berlin beteiligt. „Als ich zurückkam und dem Direktor des Regionalsenders von den Medien als der vierten Gewalt erzählte, sagte er nur ,Vergiss es’.“ Wassiljew ging zum Privatsender Nika, der mehr Freiheit bot. Doch 2001 kaufte ihn Artamonows Gebietsverwaltung. Als die Zensur schließlich überhandnahm, warf Wassiljew das Handtuch. „Die Verwaltung gab uns Anweisungen, wen wir zeigen sollten – und wen nicht“, sagt er.

Seitdem arbeitet er als Programmierer, aber er gibt nicht auf. Seit zwei Jahren dokumentiert er in seinem Blog jene Auswüchse eines Systems, in dem Gouverneur, Bürgermeister, Minister und Abgeordnete zu einer Partei gehören. Einiges Russland schreibt sich Wohltaten auf die Fahnen, die mit ihr eigentlich wenig zu tun haben. Eine Woche ist es her, dass Artamonow mit großem Tamtam das neue Schwimmbad der Universität eröffnete – hinter ihm ein Plakat des Parteiprojekts „500 Schwimmbäder.“ Wassiljew hat recherchiert, welches Geschacher dahinter steckt: Die Verwaltung hatte die Stadtwerke angewiesen, 26 Millionen Rubel, das sind umgerechnet 600 000 Euro, an die Universität zu überweisen. „Woher haben die Stadtwerke, die uns Heizenergie liefern und dafür von uns bezahlt werden, plötzlich 600 000 Euro zu viel?“ Eine Antwort darauf konnte Wassiljew auch dem Rechnungshof nicht geben.

Er sieht ziemlich erschöpft aus. Es sind Fälle wie dieser, die müde machen, weil so viel Arbeit dahinter steckt – und am Ende niemand zur Verantwortung gezogen wird. Das ist die Tragödie dieses Systems, in dem auch die unzähligen Untersuchungen der unabhängigen „Nowaja Gaseta“ über korrupte Beamte und Politiker verpuffen wie Silvesterböller.

Nika TV hat sich derweil zu einem Sprachrohr des Gouverneurs entwickelt, dessen Berichterstattung selbst Mitglieder seiner eigenen Partei hinter vorgehaltener Hand als „Arschleckerei“ bezeichnen. In den Nachrichten immer dasselbe freundliche Bild: Der Gouverneur eröffnet Sporthallen, erhöht den Lehrern die Gehälter um 40 Prozent und warnt Protestwähler vor den negativen Folgen einer „unüberlegten Wahl“. Oppositionelle tauchen nicht auf, nur im Wahlkampf dürfen sie sich täglich eine halbe Stunde teilen, die das russische Wahlgesetz ihnen gewährt.

Die Putin'sche Machtvertikale bleibt nicht untätig: Wer ausschert, wird abgestraft.

In Obninsk, wo die Opposition erstarkt ist, schlägt Gouverneur Artamonow offen drohende Töne an. „Die Partei, die siegt, wird sagen, ihr sympathisiert nicht mit unserer Partei, sondern mit einer an deren. Dann wartet, bis sie siegt, und dann löst mit ihrer Hilfe eure Probleme“, erklärt er Journalisten. Das ist die Putin’sche Machtvertikale in Aktion, wer ausschert, wird abgestraft. Aber Artamonow kämpft auch um seinen eigenen Kopf, der rollen dürfte, wenn Einiges Russland in seinem Hoheitsgebiet durchfällt. Er führt die Regionalliste der Partei an, auf Platz zwei steht Jurij Wolkow, ein Geheimdienstler aus St. Petersburg und Protegé Putins.

Prognosen für Kaluga gibt es nicht. Die letzten russlandweiten Umfragen geben Einiges Russland etwas mehr als 50 Prozent. 2007 erhielt die Partei 64,3 Prozent. Ihre Zweidrittelmehrheit ist sie sicher los, aber verliert sie noch mehr? Es wäre eine Niederlage, die Putins Machtvertikale nicht zum Einsturz bringen, aber doch an ihr rütteln würde.

In ihrem Bemühen um Wählerstimmen landet die Partei in Kaluga bei Methoden, die eher an Tupperware-Parties erinnern. Jedes Mitglied liefert der Partei Passdaten und Telefonnummern von mindestens zehn Bekannten und Verwandten – und bürgt dafür, dass diese zur Wahl erscheinen. Wer auf der Liste steht, bei dem klingelt das Telefon, und ein Vertreter des Parteibüros fragt freundlich: „Gehen Sie zur Wahl?“ Und dann bestimmt: „Und für wen werden Sie stimmen?“

Da stirbt eine Katze und wer ist Schuld? Fjodor Borinskich (re.) versteht die Kritik an seiner Partei nicht, die in Kaluga mit großen Plakaten für sich wirbt.
Da stirbt eine Katze und wer ist Schuld? Fjodor Borinskich (re.) versteht die Kritik an seiner Partei nicht, die in Kaluga mit großen Plakaten für sich wirbt.

© Gathmann

Die Partei zeigt Nerven, und die wachsende Spannung spürt auch Fjodor Borinskich, der in seinem Wahlkreis für Einiges Russland trommelt. Der 41-jährige Stadtrat sitzt in Anzug und Krawatte in seinem Café im Zentrum Kalugas. Vor zehn Jahren hat er das erste „europäische“ Café der Stadt eröffnet und es Kofenja genannt. Er hält Anteile an Radiosendern und Immobilien und ist Direktor des Kinos. Er lebt den „American Dream“ von Kaluga. Deshalb versteht er die Erwartungshaltung der Bürger nicht. „Die Menschen überschätzen unsere Möglichkeiten“, sagt Borinskich und fährt sich durch die blonden Haare. „Da stirbt eine Katze, und wer ist schuld? Einiges Russland!“ Dabei baue die Verwaltung Straßen, Gehwege, schaffe Arbeitsplätze – „wir geben den Menschen Stabilität, aber niemand sagt Dankeschön.“

Dabei ist es Einiges Russland selbst, das Heilserwartungen produziert und die Versprechen nicht einlösen kann. „Die Menschen haben das Gefühl, dass der Horizont, der ihnen gezeigt wird, unerreichbar ist“, sagt Konstantin Iwanow, Chefredakteur von „Perekrjostok“, der einzigen mehr oder weniger unabhängigen Zeitung in Kaluga. Die Menschen sehen die baufälligen Plattenbauten, in denen sie wohnen, die Löcher in den neuen Straßen und dass Beamte sich bestechen lassen, wenn man eine Baugenehmigung braucht. Der Gouverneur lobt die High- Tech-Ansiedlung, aber die Menschen schrauben nur Bausätze zusammen, die aus Europa geliefert werden. Und sehen, dass die eigenen Fabriken vergeblich auf große Rüstungsaufträge warten, die seit Jahren von Putin versprochen werden.

Selbst jene, die dem Horizont nah sind, wenden sich von Einiges Russland ab. Andrej Jakowlew* fährt am Mittwochabend mit dem Bus zur Nachtschicht im VW- Werk. Nach seinem Ingenieursstudium ging er in die Lackiererei von Volkswagen. Jetzt sitzt er acht Stunden täglich am Monitor und bekommt dafür tausend Euro, viel Geld für Kaluga. In ein paar Tagen wird das Leben des 26-Jährigen ein gutes Stück komfortabler, wenn „sein“ Skoda Octavia vom Band läuft. Und doch sagt er: „Einiges Russland verspricht viel und erfüllt nichts.“ Jakowlew erinnert sich an ihr „Manifest“ von 2002, da war er 18: Jede Familie werde in einer eigenen Wohnung leben, stand da. Stattdessen sind die Lebenshaltungskosten explodiert, und Wohneigentum ist teurer geworden. 1300 Euro kostet der Quadratmeter in Kaluga im Schnitt, nur etwas weniger als in Berlin.

Andrej wird deshalb am Sonntag wie die meisten seiner Freunde für Gerechtes Russland stimmen, für Menschen wie Andrej Pertschjan, 52, Besitzer eines russischen Autozulieferers und Duma-Kandidat. Pertschjan beschwert sich darüber, wie die Kreml-Partei die Medien dominiert, wie die Regionalregierung ausländische Unternehmen umgarnt und die eigenen vergisst. So weit geht er. Aber er würde nie den Gouverneur angreifen. Pertschjan ist ein erfolgreicher Unternehmer im Anzug, der geht nicht auf die Straße, um das System zu stürzen. Pertschjan hat auch mal Einiges Russland finanziert, als er Bürgermeister werden wollte.

Damit symbolisiert er, was in Russland „Systemopposition“ heißt: Seine Gerechtes-Russland-Partei hatte der Kreml einst geschaffen, um den Kommunisten Stimmen abzujagen. Allerdings ist sie in letzter Zeit etwas außer Kontrolle geraten. Parteichef Sergej Mironow hat sich mit dem Kreml überworfen und wird wohl selbst für das Präsidentenamt kandidieren. Immerhin.

Am Tag vor der Wahl eilen die Menschen im Zentrum der Stadt durch das Schneetreiben. Einiges Russland und die Gebietsverwaltung hat die ersten Seiten der „Perekrjostok“ gekauft, und Artamonow erklärt seinen Bürgern: „Am 4. Dezember wählen Sie nicht nur die Abgeordneten der Staatsduma, sondern auch den Gouverneur des Gebiets.“ Es ist eine offene Lüge. Aber auch die Wahrheit für einen, über dessen Kopf bei den Wahlen entschieden wird.

* Name geändert

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