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Wo kommt dieser Patriotismus her? Russinnen auf der Militärparade zum 70. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland am 9. Mai 2015 auf dem Roten Platz in Moskau.

© dpa

Patriotismus in Russland: Wie das Volk von Wladimir Putin tickt

Was treibt die Russen um? Woher kommt diese überwältigende Unterstützung für Wladimir Putin und seine selbstherrliche Politik? Ein Bericht aus einem nach innen gekehrten Land.

Tausende Nationalflaggen wehen dieser Tage in ganz Russland zum 70-jährigen Jubiläum des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Sie alle hüllen das Land in Weiß, Blau und Rot und damit ein in neuem, aber von altem Denken inspiriertem Patriotismus – nur drei kleine Nationalflaggen, die 100 Meter entfernt vom Kreml hängen, sollen etwas anderes aussagen.

Sie baumeln von improvisierten Fahnenmasten an der Großen Moskwa-Brücke, wo 1987 Mathias Rust mit seinem Kleinflugzeug landete und damit den Kalten Krieg ad absurdum führte – und wo am 27. Februar 2015 der Oppositionspolitiker Boris Nemzow erschossen wurde. Auch Menschen, die eine andere Haltung pflegen als die Mächtigen im Kreml, gehören dazu, sagen diese drei Flaggen. Sie sind ein fast trotziger Versuch zu zeigen, dass es mehr als ein Russland gibt und mehr als den einen, nach Weltgeltung strebenden Einheitsrussen.

Es mag ein Zufall sein oder auch nicht, aber der mit Rosen übersäte Fußgängerweg von der Gedenkstätte für Nemzow hinunter zum Roten Platz schrumpfte in jener Zeit auf wenige Meter Länge zusammen, da die Vorbereitungen zur gigantischen Parade am 9. Mai voranschritten. Zuvor wurde die Gedenkstätte schon von Nationalisten niedergetrampelt, von Liberalen verteidigt, von übergriffigen Patrioten infrage gestellt.

"Stabilität ist wichtiger als die Freiheit"

Orte, die zu unbequemen Fragen anstiften, werden rar in Russland. Im Kleinen, wie auf der Brücke am Kreml, und im Großen wie im zentralrussischen Perm, wo im Herbst 2014 das einzige richtige Gulag-Museum des Landes geschlossen wurde. Sogar der kaum einen Kilometer von der Brücke entfernte Bolotnaja-Platz, wo es 2012 die größten Proteste gegen die Regierung gab, ist ohne die Demonstranten nur ein zwischen Fluss und Hauptstraße eingeklemmter Park. Nichts riecht dort nach Revolution.

Im Ermangelung physischer Orte für die kritische Reflexion von Gegenwart und Vergangenheit wandern unbequeme Positionen ab. Wenn sie nicht eingeschlossen werden in die Köpfe ebenso unbequemer Geister, oder mit diesen ins Ausland verschwinden, gehen sie in den am schwierigsten zu beherrschenden Ort: ins Internet. Sogar ganze Museen platzieren sich in Russland dort, wie das „Museum der 90er Jahre“ der Stiftung Jegor Gaidar. Gaidar war als Wirtschaftsminister nach der Wende einer der Väter der russischen Schocktherapie – also des möglichst raschen Übergangs zur Marktwirtschaft, koste es, was es wolle. Dem Durchschnittsrussen gilt er damit als einer jener Männer, die ihr Land verschleudert haben.

Realisiert hat das Museum im Internet Ilja Venyavkin. Der 33-Jährige trägt Bart, Brille und einen grauen Anzug, er ist ins Sacharow-Zentrum gekommen, um über sein Projekt zu berichten. „Es ist ein russisches Paradox, dass wir geradezu in Geschichte ertrinken, aber kaum gute historische Museen haben. Bei weiten Teilen der Bevölkerung herrscht großes Unwissen“, sagt Venyavkin. Das Museum als eine Art interaktives Sammelsurium an Interviews und Beiträgen nur ins Netz zu stellen, hätte finanzielle Gründe, erklärt er, selbst ein Haus in der Moskauer Peripherie wäre zu teuer gewesen. „Wir haben zehn Jahre Propaganda gegen die 90er Jahre hinter uns. Viele hassen Gaidar“, erklärt Venyavkin und muss kurz schmunzeln. „Allerdings hasst niemand sein eigenes Privateigentum. Gaidar brachte den Menschen eben dieses Privateigentum.“

Die frühen 90er Jahre bilden die große gesellschaftlich-historische Bruchlinie Russlands. Wegen der traumatischen Transformation glaubt das Land seither einer Scheinkorrelation. Im autoritären Sowjetreich ließ es sich sicher leben. Im demokratischen Wild-West-Kapitalismus der 90er nicht. Also müssen sich Sicherheit und Freiheit ausschließen. „Es war keine Zwangsläufigkeit, dass Russland eine Marktwirtschaft wird. Es gab damals nur eine andere Option: alles an Ausländer verkaufen. Doch das wollte auch keiner“, sagt Venyavkin.

Bemerkenswert wird seine Position, wenn er von seiner eigenen Geschichte erzählt. Sein Vater hatte für die Sowjets Raketen entwickelt, mit der Wende seinen Job verloren, die Familie zerbrach daran. „Es war schon dramatisch. Praktisch alle Familien meiner damaligen Freunde sind zusammengebrochen.“ Dennoch kämpft Venyavkin heute für eine Auseinandersetzung mit den 90ern, weil darin der Schlüssel zur Gegenwart liege. „Im Bewusstsein der Menschen ist diese Zeit ein Schwarzes Loch. Alle dämonisieren sie, aber keiner redet wirklich über die jüngere Geschichte.“

Eine ganz junge und emblematische Geschichte über Russland 2015 ist die, warum das Gespräch mit Venyavkin im Sacharow-Zentrum in Moskau stattfand. Genauso wie einige andere Menschen, die in diesem Text zu Wort kommen werden, sprach Venyavkin mit den Teilnehmern von „Times of Change“. Dieser Workshop sollte parallel mit dem deutsch-polnisch-russischen Forum „Erinnerung des Wandels“ in Lenins Heimatstadt Uljanowsk stattfinden. Der Deutsch-Russische-Austausch, die Robert-Bosch-Stiftung und weitere Partner wollten in der Provinz die Transformationsprozesse und die Erinnerungskultur der drei Länder vergleichen. Erst wollte die Provinz auch. Dann begannen Probleme.

„Mir war bewusst, dass die polnisch- russischen Beziehungen nicht die einfachsten sind. Doch genau in diesem schwierigen Dialog lag der Ansatz“, erklärt die zuständige Robert-Bosch-Kulturmanagerin Cornelia Reichel. „Leider sahen einige russische Behörden in diesem Dialog eher das Risiko eines Skandals.“ Die Organisatoren gingen immer mehr Kompromisse bei der Programmgestaltung ein, niemand verbot die Veranstaltungen, doch die Hürden wurden immer größer. Als Reichel nach einer Dienstreise in ihre Wohnung in Ulyanowsk zurückkehrte, fand sie diese aufgebrochen und ihre Sachen durchwühlt vor. Gestohlen wurde nichts. Ob ein Zusammenhang mit ihrer Arbeit besteht, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Reichel entschied zusammen mit Johanna Sievers vom Deutsch-Russischen-Austausch, den Workshop nach Moskau zu verlegen – wo er mit Hilfe von Partnern wie eben dem Sacharow-Zentrum doch noch stattfinden konnte.

Dieses nach dem berühmten Menschenrechtler benannte Kulturzentrum landete 2014 wie zahlreiche weitere Nichtregierungsorganisationen auf der Liste der „Ausländischen Agenten“. Mit diesem Status sollen Organisationen gebrandmarkt werden, die Gelder aus dem Ausland erhalten. Dabei stellt der Direktor Sergej Lukaschewskij klar, dass sein Zentrum keine politische Agenda verfolge, sondern Aufklärungs- und Dokumentationsarbeit leiste. „Es ging darum, uns auf diese Liste zu kriegen. Wir sind angezählt. Jetzt können sie mit uns alles machen“, sagt Lukaschewskij. Er spricht leise, wirkt nach innen gekehrt, hat lange graue Haare. Das Zentrum versuche nun, von Russen Geld zu akquirieren. „Leider ist Wohltätigkeit in Russland nicht sehr ausgeprägt. Die Leute spenden vielleicht noch für kranke Kinder, sonst für nichts.“

Lukaschewskij erzählt von ständigen Prüfungen durch Finanzbehörden, von den Problemen der Mitarbeiter, die mit diesem Stigma „Ausländischer Agent“ für Normalbürger automatisch zu Verrätern geworden seien. Je mehr er spricht, desto gebrechlicher wird seine Stimme, und man kann nicht anders, als festzustellen, dass der Leiter eines der wichtigsten Institute für die Aufarbeitung der Vergangenheit Russlands hier und heute, in der Gegenwart, resigniert hat.

Warum unterstützen mehr als 80 Prozent die Kreml-Führung?

Doch warum ist das heutige Russland ein Staat, in dem Menschen wie Lukaschewskij an den Rand gedrängt werden? Warum unterstützen mehr als 80 Prozent den politischen Kurs und das Spitzenpersonal? Darüber kann Masha Volkenstein einiges erzählen. Zu Beginn der 90er gründete die gelernte Physikerin das erste Meinungsforschungsinstitut Russlands. Heute betreibt sie überwiegend Marktforschung. Volkenstein empfängt im Büro ihrer Firma Validata, das mit all seinen Lounge-Chairs, Limonadenflaschen und seinem hoffentlich kreativen Chaos problemlos als Berliner Hipster-Start-up durchgehen könnte. Trauen sich die Russen überhaupt noch, ihre Meinung offen zu sagen, Frau Volkenstein? „Anfang der 90er waren alle furchtbar aufgeregt und ebenso deprimiert. Alle wollten reden. Heute halten die Leute mehr Distanz, aber man findet schon heraus, was sie denken.“

Volkenstein trägt ein schwarzes Kleid, Mittelscheitel und guckt konzentriert und freundlich, wie Chefs das im Idealfall tun. „Der Russe ätzt immer gegen die Regierung und gibt ihr dabei noch mehr Macht“, sagt sie und wirkt dabei nicht desillusioniert. „Wir hatten lange Zeit große Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem Westen. Auf dieser Klaviatur wird bis heute gespielt.“ Als Marktforscherin hat Volkenstein viel mit den Auswirkungen der Sanktionen zu tun, die der Westen wegen der Ukraine-Politik gegen Russland verhängt hat – wenn es denn welche gibt. „Viele große Firmen produzieren längst hier. Es lassen sich heute nicht mehr einfach Grenzen für Waren oder Menschen ziehen.“ Die in russischen Medien vielfach beschworene Rückbesinnung auf heimische Produkte hat auch Volkenstein in Studien festgestellt, allerdings nur bei lokalen Lebensmitteln. „Bei technischen oder medizinischen Geräten wollen die Russen immer noch Westware.“ Und wann kriegt Russland seine erste weibliche Staatschefin? „Puhh“, sagt sie und lacht kurz auf: „Fragen Sie mich mal, wann wir irgendeinen anderen Präsidenten kriegen!“ Die Zustimmungsraten des aktuellen Präsidenten seien ja auch erst so hoch, seit er die Krim geholt habe. „Die Leute glauben einfach an ihn.“

Es fällt auch schwer, an ihm vorbeizukommen, der nicht nur im Staatsfernsehen täglich mit fester Stimme den Staatsmann gibt, sondern auch im Straßenbild allgegenwärtig ist. In den Souvenirshops reitet er auf Bären, schält sich aus Matrjoschkas, verkündet von T-Shirts den Widerstand gegen ausländische Aggressoren. Es wäre jedoch ein Irrglaube, dahinter eine staatliche Kampagne zu vermuten. Auf die Frage, ob der Kreml beim Präsidenten-Kult nachhilft, antwortet eine Verkäuferin: „Was reden Sie denn da? Wladimir Wladimirowitsch verkauft sich einfach gut. Wir wollen Geld machen.“ Im Gespräch mit Russen aller Altersklassen und sozialen Schichten fällt auf, dass kaum jemand wirkliche Begeisterung für den Kreml und den starken Mann darin empfindet, die meisten ihn aber unterstützen.

„Ich bin für die Freiheit jedes Einzelnen, sich anständig zu benehmen"

Marat Jezhow ist heute einer der führenden Kardiologen Russlands. Geboren wurde er in der Kleinstadt Kamensk- Uralski, „mit zehn kriegswichtigen Fabriken und der ständigen Angst vor amerikanischen Bomben“. Seine Kindheit sei glücklich gewesen, erzählt Jezhow in einer Bar unweit des legendären Taganka-Theaters, „obwohl wir uns nicht einmal Wurst leisten konnten“. Mehr als bedauerlich findet er die Abwicklung des sowjetischen Vorsorgesystems im Krankenhauswesen in den 90er Jahren. Heute sei das wieder besser, so seien seit 2008 Herzoperationen im ganzen Land kostenlos. Allerdings bringe die Marktwirtschaft andere Zwänge wie Zeitdruck mit sich. „Als Arzt muss ich sagen, dass Stabilität für mich immer wichtiger sein wird als Freiheit.“ Dieses so oft gebrauchte Wort, Freiheit, findet er ohnehin schwierig. „Ich bin für die Freiheit jedes Einzelnen, sich anständig zu benehmen.“

Wie bewertet Jezhow den politischen Kurs seines Landes? „Ich habe großen Respekt für den Präsidenten, vor allem für seine klaren Meinungen.“ Das gesellschaftspolitische Zurückdrehen der Zeit gefällt Jezhow – weil ihm die Gegenwart nicht gefällt. „Viele Menschen laufen traurig durch unsere Straßen. Ich persönlich nehme die Brutalität und den Zynismus der heutigen Zeit nicht an.“ Jezhow hatte 1990 seine Briefmarkensammlung für seine erste Jeans verkauft. „Was für ein Fehler!“, sagt er heute. Die Einstellung der heutigen Jugend – „nur-für-den-Kick-für-den-Augenblick“ – sieht er als entscheidendes Problem der Gesellschaft. Je länger Jezhow spricht, desto mehr wirkt er wie ein moralischer Sowjetmensch, der in Europa vielleicht Pfarrer geworden wäre und mit seinen Ansichten in eben diesem Europa natürlich Probleme hätte.

Nachts unterscheidet sich Moskau vom Westen genauso wie am Tag: durch Hektik. Entspanntes Ausgehen à la Berlin ist nicht angesagt, es wird lauter gelacht, offensiver geflirtet und mehr Geld auf den Kopf gehauen. Trotz dieser mutwilligen Ekstase wirkt Moskau homogener als andere Metropolen, vielleicht deshalb, weil kaum eine Frau auf ihre Pumps verzichtet und kaum ein Mann auf seinen Kurzhaarschnitt. Ins Gespräch zu kommen mit diesen stets etwas überarbeitet wirkenden Männern ist trotzdem kein Problem, sie scheuen den Disput nicht.

Jegor, Dima und Maxim sind alle Ende 20, sie trinken belgisches Bier für umgerechnet 6,50 Euro den halben Liter in einem normalen Moskauer Restaurant. Sie heißen eigentlich anders, zwei von ihnen arbeiten für das Verteidigungsministerium. Wie würden die drei zu einem Regierungswechsel stehen? „Es ist wie bei diesem Witz mit dem Mann, der von einer Mücke ausgesaugt wird“, erzählt Maxim. „Da kommt ein anderer und schlägt die Mücke tot. Der Mann regt sich natürlich auf: Bist du blöd? Die war doch satt. Jetzt kommt doch nur die nächste und will auch.“ Jegor und Dima nicken zustimmend. Dima nimmt einen Schluck und ergänzt: „Im Westen denken viele, dass sich die Leute hier nichts trauen, weil alle unterdrückt und getäuscht werden. Aber die Russen wissen alles. Die wollen es so.“

Warum spricht nie jemand den Namen des Kremlchefs aus?

Der Abend wird lang, es geht um die Sanktionen, die doch nur die Armen treffen würden, um die 90er, über die sie nie mit Eltern sprechen würden, und darum, woran Russland eigentlich glauben soll. Das Ergebnis des Gesprächs ist wirr, könnte aber folgendermaßen zusammengefasst werden: Unter dem Zaren war für die Russen Gott eben Gott und der Zar sein Stellvertreter. Für die meisten hat das nicht funktioniert, sie waren Leibeigene. Danach wurde mit dem Kommunismus Stalin zur Gottheit erhoben und nach ihm die Gemeinschaft. Auch das ging für die meisten nicht gut, denn es war eine erzwungene Gemeinschaft. In den 90ern wurde der Dollar zum Gott, aber die meisten blieben arm. Also kehren die Menschen zur Orthodoxie und den Mythen der Kommunisten zurück, auch wenn sie den Kommunismus nicht wollen. Es fehlt eine andere Erzählung.

Nach diesem Fazit bleibt noch eine Frage, die sich nach vielen Diskussionen in Russland stellt: Warum spricht kaum jemand den Namen des Staatschefs aus, warum sagen alle nur „er“, oder „der Präsident“, „Wladimir Wladimirowitsch“ oder „der Kreml“? Schließlich geht es nicht um Jehova, Lord Voldemort aus Harry Potter oder einen Stammeskult, der die Nennung eines Namens mit einem Unglück verbindet. Die drei jungen Männer wirken von der Frage überrascht. Nein, eine Antwort hätten sie auch nicht – aber sie wollen darüber nachdenken.

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