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"Wir sind das Volk" - das Plakat soll ganz bewusst an eine positiv besetzte Demonstrationstradition erinnern.

© dpa

Pegida, Bärgida, Kögida - ein Land ohne Nerven: Gute Straße, böse Straße

Pegida, Bärgida, Kögida - ein paar tausend Demonstranten bringen die Republik aus dem Häuschen. Denn plötzlich sind Menschen, die auf die Straße gehen, nicht mehr gut, sondern böse. Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Ein Weltbild gerät ins Wanken. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Die Gleichung geht so: Straße ist Volk, Volk ist authentisch, authentisch ist gut, Straße ist gut. Wenn dann noch „gut“ mit friedliebend, tolerant, kernkraftwerkskritisch, ökologisch und antifaschistisch übersetzt wird, geht die Gleichung auch auf. Die Liste reicht vom Schahbesuchsprotest am 2. Juni 1967 bis zu den großen Demonstrationen in Bonn gegen den Nato-Doppelbeschluss, gefolgt von Ostermärschen, Anti-Volkszählungs-, Anti-Akw-, Anti-Waldsterben-, Anti-Asylrechtsreform-, Anti-Stuttgart-2- und Anti-Irakkriegsprotesten. Nicht zu vergessen die Loveparade, die ja auch als politische Demonstration galt. Das moderne, fortschrittliche, linksliberale Selbstverständnis heißt: Wir sind die Straße, die Straße gehört uns.

Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum die Republik seit vielen Wochen wegen einiger tausend Pegida-Demonstranten aus dem Häuschen gerät. Plötzlich ist Straße nicht mehr gut, sondern böse. Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Ein Weltbild gerät ins Wanken.

Also beginnt der Wettbewerb: Wenn Pegida auf 5000 Teilnehmer kommt, muss es Nopegida auf 6000 schaffen. Dann hat immerhin die gute Straße über die böse Straße gesiegt. In der Logik dieses Wettbewerbs liegt freilich eine Form plebiszitärer Hybris. Demzufolge wird Recht und Gesetz nicht allein von einem Parlament beschlossen, das durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen ist, sondern irgendwie mitbestimmt durch eine ausreichend große Zahl von Oppositionellen, die auf die Straße gehen.

Kein Wunder, dass die Veredelung der Straße, ihre legitimatorische Überhöhung einhergeht mit ihrer Überschätzung. Als Anfang Juni 2013 in Brasilien die Proteste gegen die Fußball-Weltmeisterschaft, gegen Korruption und höhere Bustarife begannen – was am 20. Juni landesweit eine halbe Million Menschen mobilisierte –, prognostizierte fast jeder Beobachter ein Ende der Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff. Die aber wurde im Oktober vergangenen Jahres wiedergewählt und für vier weitere Jahre im Amt bestätigt. Ähnlich erfolglos waren die westdeutschen Friedensdemonstranten, die im Oktober 1981 und Juni 1982 gegen Pershing 2 und Cruise Missiles durch Bonn zogen. Am Ende hieß der Bundeskanzler zwar nicht mehr Helmut Schmidt, sondern Helmut Kohl, doch am Nato-Doppelbeschluss änderte das nichts.

Als Grundregel kann gelten: In Diktaturen ist Straße meistens emanzipatorisch und revolutionär

Wie gut ist die Straße? In Tunesien begann der Arabische Frühling, in Ägypten ging er weiter. Die Massen auf dem Tahrirplatz in Kairo stürzten Diktator Hosni Mubarak und wurden zu Recht gefeiert. Bei den anschließenden ersten freien Wahlen aber setzten sich klar die Muslimbrüder durch, was zu Chaos und Gewalt führte, dann zum nächsten Sturz und schließlich in die nächste Militärdiktatur mündete. Und ob es den Iranern seit der Chomeini-Revolution wirklich besser geht als zuvor unter dem Schah-Regime, lässt sich ebenfalls bezweifeln.

Trotzdem kann als Grundregel gelten: In Diktaturen ist Straße meistens emanzipatorisch und revolutionär – siehe 17. Juni 1953 in der DDR, Tienanmenplatz in China, Solidarnosc in Polen, die Montagsdemonstrationen in der DDR, die am 4. November 1989 in der berühmten Alexanderplatzdemo mit rund einer halben Million Teilnehmern gipfelten. In Demokratien indes kann Straße jeder – rechts wie links, gut wie böse. In Demokratien ist Straße neutral.

Insofern war es ziemlich raffiniert von den Pegida-Organisatoren, durch Begriffe wie „Montagsdemonstration“ und Plakate, auf denen „Wir sind das Volk“ steht, an das romantische, positiv besetzte Narrativ der Straße zu appellieren. Die heftige Resonanz darauf belegt, wie stark der Mythos von der an sich guten, authentischen Straße in den Köpfen vieler Menschen einzementiert wurde. Dass selbst die Bundeskanzlerin glaubte, sich klar positionieren zu müssen, ist allenfalls als Mahnung an die eigene Partei zu verstehen, gegenüber Pegida auf Abstand zu bleiben, nicht aber als Ausdruck ernsthafter Besorgnis.

Denn wovor soll Deutschland Angst haben? Aus Pegida wird keine Massenbewegung, jedenfalls gibt es keine Indizien dafür. Stattdessen zerfleischt sich gerade die „Alternative für Deutschland“, wie sie auf das Phänomen reagieren soll. Und so triumphiert über den miefigen Mist der ganzen Geschichte einmal wieder deren List.

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