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Wegweisend. Als erste Frau moderierte Carmen Thomas 1973 das „Aktuelle Sportstudio“. Der Versprecher unterlief ihr in der fünften Sendung.

© IMAGO/Sven Simon

Peinliche TV-Momente: Das Leben nach dem Ausrutscher

Ein neues Jahr bedeutet auch immer eine neue Chance. Das gilt selbst für Menschen, die ihr Leben lang von einem peinlichen Moment verfolgt werden. Carmen Thomas wurde mit „Schalke 05“ berühmt. Aus der Schmach machte sie eine Karriere.

Es ist Sommer 1973. Das „Aktuelle Sportstudio“ läuft. „Die Ferien sind für die Bundesligisten zu Ende gegangen, es wird überall fleißig trainiert“, sagt Moderatorin Carmen Thomas.

„Die Spieler versuchen auch in Freundschaftsspielen, ihre alte Fitness wieder zu erreichen oder gar, ähhhh, zu verbessern“, sagt Carmen Thomas.

„Einige Vereine haben allerdings einen Vorsprung, fünf Vereine“, sagt Thomas. Einer dieser Klubs habe ein Testspiel absolviert.

„Schalke 05 gegen… ähhhm… jetzt habe ich’s vergessen.“ Carmen Thomas blickt auf ihre Moderationskarten, dann wieder hoch und sagt etwas zu fröhlich: „Standard Lüttich, Standard Lüttich.“

Es ist nur ein Satz, eigentlich nur eine Ziffer. Aber sie sollte Carmen Thomas berühmt machen.

Es ist Sommer 2015. In der Sendung „Wer wird Millionär?“ erklärt Kandidatin Tanja Fuß, Modedesignstudentin aus Aachen: „Ich hätte jetzt gesagt: Riesen Schnauzer.“ Die Frage – ihre erste Frage – lautete: „Seit jeher haben die meisten…?“

A. Dober Männer

B. Cocker Spaniels

C. Schäfer Hunde

D. Riesen Schnauzer

Moderator Günther Jauch half nicht. Nie zuvor war ein Kandidat an der ersten Frage gescheitert. Die Studentin brachte es auf 45 Sekunden Sendezeit. Das Medienecho war gewaltig. 2015 riecht es in solch einem Fall nach einem Shitstorm. Diesen bekam Tanja Fuß dann auch ab, auf Facebook, auf Twitter, auf allen digitalen Brandbeschleunigern.

Gäbe es einen Preis für die größte Blamage, für den am meisten diskutierten TV-Moment mit „Oh mein Gott“-Faktor der deutschen Fernsehgeschichte, die Kameras würden kurz vor der Verkündung des Siegers auf den gespannten Gesichtern von Carmen Thomas und Tanja Fuß verweilen, in sicherer Erwartung, den Jubelschrei der Siegerin einzufangen.

Kann nach einem solchen TV-Moment noch eine öffentliche Karriere gelingen? Gibt einem das Leben noch eine zweite Chance – oder muss man sie sich einfach selber nehmen?

Zweite Karriere als Kommunikationstrainerin

Heute hält Carmen Thomas eine Teeuhr mit blauen Sandpartikeln in einer klaren Flüssigkeit in der Hand, die paradoxerweise von unten nach oben laufen, und sagt: „Das ist der Beweis, dass Veränderung möglich ist.“ Die Teilnehmer ihres Gruppencoachings in Hannover, alles Mitarbeiter des Verbandes selbstständiger Hörgerätemeister ProAkustik, nicken. Thomas ist jetzt, unter anderem, Kommunikationstrainerin. Sie trägt eine seriöse Brille, eine zweite baumelt von ihrem Hals. 69 ist sie mittlerweile. Das hält sie aber nicht davon ab, so energisch aus ihrem Stuhl zu springen, wie Schalke 04 in der vergangenen Bundesligasaison selten aufgetreten ist, und zu ermuntern: „Sagen Sie noch genauer, was Sie meinen. Reden Sie in roten Tubendeckeln statt in Pharma-Kartons!“ Mit den roten Tubendeckeln meint Thomas Aussagen, die Bilder im Kopf entstehen lassen. Ihr Tagesziel: die Verbesserung des internen Informationsflusses und der Kommunikationskultur – beides gehört zu Thomas’ Lieblingsthemen.

Carmen Thomas ist nicht nur voller Energie, sondern auch ein schier unerschöpflicher Quell an schlauen Sprüchen. „Dung ist Dünger!“, sagt sie, wenn jemand aus seinem Fehler lernen soll. „Versuch macht klug, Vergleich macht reich“, heißt es, wenn jemand zweifelt. Manchmal klingt es nach Forrest Gump, wenn Thomas erklärt: „In jedem Fehler steckt ein Geschenk. Es ist nur manchmal etwas ungünstig verpackt.“ Es sind Sätze, die bewegend oder schrecklich banal wirken können, je nachdem, wie viel Verve in der Stimme ihres Sprechers mitschwingt. Thomas streut diese Sätze sehr überzeugend ein.

Der Fehler an sich und vor allem ihr Fehler, er ist ihr treu geblieben, als Thema und als Wendepunkt ihres Lebens. All die vielen Jahre lebt sie nun schon mit ihrem „Schalke 05“. Doch statt zu einem Trauma wurde ihr Versprecher für sie zur Karrierechance. Ein Zuschauer schrieb ihr mal: „Wenn Sie es nicht selbst gesagt hätten, hätte es eine Werbeagentur für Sie erfinden müssen.“ Thomas selbst sagt: „Er ist ein Teil meiner Marke geworden. Ich habe erlernt, eine Spezialistin im Lampenfieberbeseitigen zu werden.“

Den Teilnehmern ihres heutigen Seminars bringt Thomas bei, perfekt vorbereitet, mit Karteikarten bewaffnet und die Gedanken nach einem klaren System geordnet in den öffentlichen Vortrag zu ziehen. Am Ende ist gute Vorbereitung doch alles.

Die Hintergründe von "Schalke 05"

Nach einem langen Tag voller Kommunikationsstrategien sitzt Carmen Thomas beim alkoholfreien Weizen in einem Café. Sie nimmt sich Zeit, den Hintergrund von „Schalke 05“ zu erläutern. In Wahrheit sei es um ein CDU/SPD-Chefpositionsringen zweier Kandidaten beim ZDF gegangen. Einer davon habe sich mit der Springer-Presse zusammengetan. „Ich wurde aus der ,Bild‘-Zeitung diskret vorgewarnt, dass ein Verriss schon am Kiosk zu kaufen sein würde, bevor meine zweite Sendung live ausgestrahlt würde. So konnte ich diese mit der kalt geschriebenen Rezension beginnen. Die so frisch beim Lügen zu überführen, ist ja selten gelungen“, sagt Thomas und lacht genüsslich.

Schalke 05 passierte in Thomas’ fünfter Sendung – und wurde erst 18 Tage später von der „Bild“ auf der Titelseite erfolgreich zum Skandal hochgeschrieben. „In Wahrheit hat sich zunächst kaum jemand über den Versprecher aufgeregt.“ Von ihrer Entlassung war überhaupt nie die Rede – wie seither immer und immer wieder falsch geschrieben wurde und wird. Vielmehr moderierte sie noch anderthalb Jahre weiter.

Nach ihrer „Sportstudio“-Zeit arbeitete Carmen Thomas 25 Jahre als Journalistin. Davon leitete sie allein 20 Jahre „Hallo Ü-Wagen“, die erste Mitmachsendung im deutschen Rundfunk. Sie schrieb 15 Bücher, lehrte 13 Jahre an Universitäten und ist seit 1980 als Kommunikationsexpertin unterwegs. So entwarf sie Nachhaltigkeits- und Mitmachkonzepte für den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Vor 17 Jahren gründete sie ihre Moderationsakademie, die sie heute leitet. Außerdem ist sie Autorin eines Millionenbestsellers: „Ein ganz besonderer Saft“ heißt er. In dem Buch beschreibt sie, wie man Urin in Haushalt, Landwirtschaft und bei der Energiegewinnung noch einmal sinnvoll nutzen kann.

Die größte Gefahr - Selbstdarstellung im Internet

Wie sich Menschen fühlen, die öffentlich bloßgestellt wurden und nach einer zweiten Chance suchen, weiß kaum jemand besser als Christian Schertz, der wohl bekannteste Medienanwalt Deutschlands. Ob Günter Jauch oder Oliver Pocher, ob Stars oder Ottonormalbürger: Wenn jemand mit dem von ihm in der Öffentlichkeit entstandenen Bild hadert, ist Schertz gefragt.

Der 49-Jährige empfängt in seinem großzügigen Büro am Ku’damm, trägt Hemd und blaue Jeans. Er gehört zu den Gesprächspartnern, die keine Fragen brauchen, um Antworten zu liefern. „Durch die Verrohung der Sitten im Internet habe ich eine Veränderung beim Boulevard beobachtet“, sagt Schertz. „Viele Yellow-Titel haben ihre Richtung korrigiert. Ein Journalismus, der Menschen vorführt und massiv Persönlichkeitsrechte verletzt, kommt beim Publikum schlicht nicht mehr so gut an. Sie wollen positive Geschichten lesen.“

Schertz weist auch darauf hin, dass die seelische Beeinträchtigung bei Nichtprominenten deutlich größer sei als bei Promis, da sie mit Medien weniger Erfahrungen haben. Hier wirkten Kampagnen oft traumatisierend. „Und natürlich ist der Shitstorm im Internet vernichtender als negative Presseberichte.“

Schertz hat sich einen Namen als Kämpfer für ein Recht auf Privatsphäre gemacht – doch die größte Gefahr für diese Privatsphäre geht für ihn nicht von skandalsüchtigen Journalisten, sondern von den Menschen selbst aus, die ihre Daten ins Internet stellen und sich permanent öffentlich darstellen wollen. „Den jungen Menschen wird leider vermittelt: Nur wenn du öffentlich stattfindest, bist du etwas.“ Die so entstandene Einstellung nennt Schertz „Castingkultur“. So passiert es, dass unbedarfte Menschen deutlich häufiger in der Öffentlichkeit auftauchen – und dann Opfer von Spott werden, wenn sie dort einen Moment lang nicht funktionieren.

Sendungsbewusst. Die 69-jährige Carmen Thomas bei der Arbeit.
Sendungsbewusst. Die 69-jährige Carmen Thomas bei der Arbeit.

© privat

Eine besondere Rolle haben soziale Medien übernommen. Der Boulevard schafft Aufmerksamkeit, er führte die Blamierten früher bestimmt und heute immer noch bisweilen zur Schlachtbank – aber geschlachtet wird dann von Mitbürgern, die sich – zumeist anonym – über angeblich himmelschreiende Dummheit aufregen und sich dabei himmelschreiend dumm gehen lassen.

Allerdings scheint es nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch die Reaktion zu sein, die beeinflusst, wie jemand in Erinnerung bleibt. Tanja Fuß blieb nach ihrem Aussetzer erst ganz cool, sie sagte: „Pech im Spiel. Glück in der Liebe“ – weil sie nur wegen ihres Freundes bei Jauch mitgemacht hatte. Erst Tage nach der Ausstrahlung ließ sie sich damit zitieren, dass sie unter „Psychoterror“ leide, einem Spießrutenlauf.

Christian Schertz verweist auch auf den Fall Lisa Loch. Heute arbeitet sie erfolgreich als Model und Schauspielerin – bekannt wurde Loch aber, weil Stefan Raab sie 2001 als 16-Jährige in „TV Total“ als Dauereinspieler tagelang zum Gespött des Landes gemacht hatte. Sie hatte gar nichts Ungewöhnliches getan, sondern nur bei einem Schönheitswettbewerb ihren Namen in die Kamera gesagt. Raab suhlte sich regelrecht in dem Einspieler, eine „Lisa Loch“-Partei sollte gegründet werden, hohoho, auf dem Parteilogo war ein kopulierendes Pärchen zu sehen, hihihi. Lisa Loch klagte und bekam 70 000 Euro. „Später hätte Raab das nicht mehr so gemacht“, glaubt Christian Schertz, der Lisa Loch kennt, sie aber damals nicht vertreten hat. „Und Lisa hat durch den Sieg vor Gericht natürlich auch das Erlebnis besser verarbeiten können.“

Das moderne Copyright schützt

Ohnehin scheint die Regel zu sein: Wer die Öffentlichkeit sucht, profitiert am Ende sogar von peinlichen TV-Momenten. Wie Waldemar Hartmann. Der Sportreporter Hartmann, bekannt geworden durch einen Wutanfall Rudi Völlers über seine angeblich bereits getrunkenen „drei Weizenbier“. Er wurde 2013 – ebenfalls bei „Wer wird Millionär?“ – als Telefonjoker angerufen. Er verneinte, dass Deutschland Weltmeister im eigenen Land geworden war, und wirkte mit etwas Abstand selbst amüsiert über seinen Fauxpas, den er sogar zu vermarkten wusste. Seine Fehler machten aus dem Sportreporter Hartmann eine Kultfigur.

Je weniger medienaffin ein Mensch aber ist, sagt Schertz, desto gefährdeter ist er, wenn der Sturm über ihn hereinbricht. Langfristig mag Lisa Loch die Aufmerksamkeit genutzt haben. Kurzfristig wurde sie auf offener Straße beleidigt, am Telefon belästigt – und begab sich in Psychotherapie. Tanja Fuß scheint bislang ohne Therapie auszukommen. Carmen Thomas hat die über sie drübergerollte Walze auch Vorsicht gegenüber der Öffentlichkeit gelehrt. So gern und viel sie als Kommunikationstrainerin auch redet: Über ihr Privatleben spricht sie mit Journalisten grundsätzlich nicht.

Unmittelbar nach dem Versprecher entschuldigte sich Thomas noch recht lässig bei den Zuschauern: „Die ganz ernsthaften Fans können jetzt wieder aus ihrer Ohnmacht erwachen. Ich hab’s vorhin sogar selbst gemerkt, dass ich Schalke 05 gesagt habe und nicht Schalke 04. Deshalb bin ich ja dann gleich über Standard Lüttich gestolpert. Wenn, dann muss man das doch komplett machen. Ich bitte um Nachsicht.“

Vielleicht lag der Skandal um ihren Versprecher auch darin begründet, dass Thomas die erste Frau im Sportstudio war und mit ihren 26 Jahren so lampenfiebrig-unsicher daherkam. Auch Tanja Fuß kam bei „Wer wird Millionär?“ nicht gerade abgebrüht rüber.

Interessant ist es heute, dass Tanja Fuß’ Aussetzer als Video im Netz schwieriger zu finden ist als der von Carmen Thomas. Die Erregungsintervalle mögen sich verkürzt haben – aber das moderne Copyright sorgt dafür, dass RTL Tanja Fuß’ Recht darauf, nicht ewig mit jenen 45 Sekunden malträtiert zu werden, unabsichtlich schützt.

Carmen Thomas zuckt auf die Nachfrage nach Tanja Fuß nur mit den Schultern. Die Menschen werden heute schneller durch den Kakao gezogen. Aber dieser Kakao wird auch zügiger wieder ausgekippt. Das lässt vielen die Möglichkeit, schneller eine zweite Chance zu ergreifen.

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