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Politik: Permanente Ausnahme Von Christoph von Marschall

Es klingt nach der sarkastischsten Meldung des Tages: Die Regierung in Bagdad verhängt den Ausnahmezustand über den Irak. Ist das Land nicht schon lange im permanenten Ausnahmezustand?

Es klingt nach der sarkastischsten Meldung des Tages: Die Regierung in Bagdad verhängt den Ausnahmezustand über den Irak. Ist das Land nicht schon lange im permanenten Ausnahmezustand? Bereits die Jahre unter dem Diktator Saddam Hussein waren dem Notstand näher als der Normalität, jedenfalls für Schiiten und Kurden. Und seit dem Einmarsch der USgeführten Koalitionstruppen vor anderthalb Jahren ist der Irak erst recht nicht zur Ruhe gekommen. Keine Woche ohne schwere Anschläge, Überfälle auf Armee und Polizeistationen, Entführungen und Enthauptungen ausländischer Helfer.

Und doch markieren die jüngsten Tage eine weitere Verschärfung der Lage. Sie hat wenig mit dem Ausgang der amerikanischen Präsidentenwahl zu tun und wird sich vermutlich in den kommenden zwei Monaten weiter zuspitzen. Beide Seiten blicken auf die für Januar geplanten Wahlen, die zur nächsten Etappe auf dem Weg zu einer neuen Normalität werden sollen, zum Beleg für die Stabilisierung. Deshalb häufen sich Überfälle und Anschläge. Deshalb terminiert die irakische Regierung den Notstand auf 60 Tage und deshalb bereitet sie mit der US- Armee eine Großoffensive gegen Falludscha vor. Die Stadt ist das Zentrum des sunnitischen Widerstands, gilt aber auch als Zentrale des ausländischen Oberterroristen Abu Mussab al Sarkawi; er soll hinter den besonders grausamen Terrorakten gegen auswärtige Helfer stecken, mit denen er deren Heimatstaaten zwingen will, aus Bushs Koalition auszuscheren. Amerikas strategisches Ziel ist es, die Wahlen zur demokratischen Legitimation für den Irak nach Saddam zu machen; Sarkawis Ziel dagegen und ebenso das des irakischen Widerstands, die Wahlen zu einem Fiasko werden zu lassen.

Insofern könnte es in die Irre führen, aus der geplanten Großoffensive gegen Falludscha prinzipielle Schlüsse über Bushs Irakpolitik in der zweiten Amtszeit abzuleiten. Gewiss, die Entscheidung für massive Gewalt so kurz nach der Wiederwahl scheint alle Hoffnung zu begraben, dass er bereit sein könnte, seinen Kurs zu überdenken, Fehler einzuräumen und zu korrigieren. Andererseits ist Falludscha ein Sonderfall. Und es ist eher unwahrscheinlich, dass ein Präsident Kerry anders entscheiden würde. In Amerika gilt der frühere Umgang mit dieser Stadt mehrheitlich als schwerer Fehler.

Bushs Regierung stand zu einem ähnlich strategischen Zeitpunkt schon einmal vor dem Dilemma, sich für oder gegen den Sturm entscheiden zu müssen – im Wissen, dass die Folgen in jedem Fall bedenklich sind. Das war wenige Wochen vor der offiziellen Machtübergabe an die Iraker Ende Juni. Stürmen die US- Truppen Falludscha, strafen die Bilder von zerbombten Häusern, toten und verwundeten Zivilisten die Botschaft von einer Stabilität, die den Machtwechsel erlaubt, Lügen – und schüren zudem die Emotionen im Land. Lassen die Koalitionstruppen den Widerstand in Falludscha ungeschoren, belasten sie die neue Regierung mit einer untragbaren Situation und ermutigen womöglich die Rebellen anderswo, eine ganze Stadt zur Geisel zu nehmen. Wer sich in einer Stadt verschanzt, macht sich fast unangreifbar und gewinnt neue Finanzquellen zur Finanzierung des Widerstands.

Der Angriff wurde aufgeschoben, das Problem dadurch nur größer, so die Sicht in Amerika. Allgemeine Wahlen anzupeilen, ohne den Widerstand in Falludscha zuvor zu brechen – das gilt jetzt als Rezept für sicheres Scheitern. Auch Europa, auch Deutschland muss sich erfolgreiche Wahlen wünschen und ein Scheitern der Rebellen. Was aber folgt daraus politisch-praktisch, auch angesichts der Kritik des irakischen Regierungschefs Allawi an den „Zuschauerstaaten“, die zu wenig zu einer besseren Zukunft im Irak beitragen? Die Deutschen werden dankbar sein, dass die Bundeswehr nicht im Irak steht und keine Bilder von der Todesangst deutscher Geiseln über die Bildschirme flimmern. Wer die Bedeutung von Falludscha und die Folgen bedenkt, will nicht in der Haut der Amerikaner stecken. Aber wer will sich angesichts der Last der Entscheidung überhaupt zum Richter aufschwingen, was dort richtig und was falsch ist?

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