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Peter Wensierski: "Das Schweigen ist durchbrochen"

Der Journalist und Buchautor Peter Wensierski spricht mit dem Tagesspiegel über Heimkinder der 50er und 60er.

Sie sind für Ihr Buch „Schläge im Namen des Herrn“ mit dem Medienpreis der Deutschen Kinder- und Jugendhilfe ausgezeichnet worden. Was hat Ihr Buch über das Schicksal der Heimkinder der 50er und 60er Jahre bewirkt?

Eins vor allem: Tausende von Menschen verstecken ihr schweres Lebensschicksal nicht mehr. Jahrzehntelang dachte jeder einzelne von ihnen, er müsse sich dafür schämen, als Kind in ein Heim gesteckt worden zu sein – fast immer, ohne zu wissen, warum. Dieses Schweigen ist durchbrochen. Das hat das Buch bewirkt.

Was haben diese Kinder in den Heimen erlebt?

Sie waren meist einer Erziehung ausgesetzt, die diesen Namen nicht verdient und die ihr Leben bis heute negativ bestimmt. Es war eine schwarze Pädagogik voller Zucht- und Ordnungsvorstellungen mit verheerenden Folgen. Hunderttausende wurden in geschlossene Heime gesteckt. Es waren keine Kriminellen, sondern oft nur Kinder von alleinerziehenden Müttern, Kinder, die wegen Kleinigkeiten aufgefallen waren und nicht in die konservative Gesellschaft der 50er und 60er Jahre passten. Sie haben in den nicht kontrollierten Heimen drakonische Strafen erlitten, körperliche und psychische Gewalt, die manchmal an Folter grenzte. Es wurde ihnen Bildung und medizinische Versorgung vorenthalten, und oft auch die Briefe ihrer Eltern. Größere Kinder und Jugendliche mussten schwer arbeiten, es kam sehr häufig zu bis heute nicht geahndetem sexuellem Missbrauch. Aus Bequemlichkeit verabreichten Erzieher heimlich Medikamente. Fast alle Heimkinder berichten über Demütigungen und Erniedrigungen, mit denen ihnen immer wieder bedeutet wurde, dass sie nichts wert seien. Kurzum: Man hat die damaligen gesellschaftlichen Störenfriede einfach ausgegrenzt, weggesperrt und so ihrer Lebenschancen beraubt. Ich bin bei den Recherchen auf das vielleicht größte Unrecht an Kindern und Jugendlichen gestoßen, das im Westen und nicht im Osten Deutschlands passiert ist.

Der Verein der ehemaligen Heimkinder hat sich an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags gewandt. Was hat er erreicht?

Als ich an dem Buch gearbeitet habe, habe ich mich oft gewundert, wie ein derart dunkles Kapitel der jüngsten Geschichte einfach vergessen werden konnte. Das Schweigen der Heimkinder kam aber dem Schweigen der staatlichen und kirchlichen Träger dieser Einrichtungen entgegen. Das ist endlich beendet. Jetzt beschäftigen sich damit auch Wissenschaftler, Verbände und Heimträger, Universitäten, die Fachhochschulen, die Erzieher ausbilden. Der Petitionsausschuss hat die Betroffenen angehört, die Träger der Heime, Experten und Wissenschaftler. Sie haben die Geschichten der Heimkinder bestätigt. Das ist sehr wichtig, weil diese Menschen durch ihr Leben gegangen sind mit dem Gefühl, dass ihnen niemand glaubt. Sie brauchen aber immer noch praktische Hilfe. Im Herbst wird es wahrscheinlich zu einem bundesweiten runden Tisch kommen, an dem die Heimkinder, Vertreter der Heime und Politiker sitzen, um den Geschädigten zu helfen. Und ich freue ich mich über das große Interesse der jungen Leute, die Pädagogik studieren oder in der Jugendhilfe arbeiten.

Wie verhalten sich die kirchlichen Träger zu ihrer Verantwortung?

Weniger zufriedenstellend. Es gab zwar Worte des Verständnisses, aber noch keine wirkliche Bitte um Entschuldigung. Das aber wäre für die Opfer sehr wichtig, gäbe ihnen ein Stück der verlorenen Ehre wieder zurück. Es gibt den Vorschlag, eine bundesweite Stiftung zu gründen, kirchlich und staatlich finanziert, um diese Zeit aufzuarbeiten und Menschen konkret zu helfen. Die Kirchen, vor allem die katholischen Orden, haben in dieser Zeit die Heimerziehung mit ihren Vorstellungen entscheidend geprägt. Uneheliche Kinder etwa galten damals als „Kinder der Sünde“, als wertlose Geschöpfe. Da könnte man als Kirche lauter und deutlicher selbstkritisch drauf eingehen.

Muss die Bitte um Entschuldigung nicht auch vom Bundestag kommen?

Ja, denn die Richter und Jugendämter haben die Kinder leichtfertig eingewiesen und die Häuser schlecht kontrolliert. Der Bundestag sollte unbedingt darüber diskutieren, nicht nur wegen der Vergangenheit. Die Zahl der Kinder und Familien mit großen Problemen nimmt ja zu und wir sollten aus den Fehlern dieser Zeit lernen, um sie nicht zu wiederholen. Wenn wir heute wieder die Gelder für die Kinder- und Jugendhilfe kürzen, die Erzieher schlecht ausbilden und Kinder nicht achten, die Jugendämter wie am Fließband nur Akten und Fälle kennen, aber nicht die Menschen sehen, dann wird das später auf die Menschen und schon bald mit doppelten Kosten auf die Gesellschaft zurückfallen.

Das Gespräch führte Tissy Bruns.

Peter Wensierski ist Journalist und Buchautor. Seit 1993 gehört der 1954 geborene Wensierski dem Deutschland-Ressort des  Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ an.

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